Retterin sucht Opfer
Transaktionsanalyse auch in der Gymnastik
von Daniela Michel, Bewegungspädagogin BGB

   
 

Eine alltägliche Geschichte

Ist dir eine ähnliche Geschichte auch schon passiert?
Eine neue Kundin, Frau B, kommt in denRückenkurs. Sie sagt, sie habe häufig nach der Gartenarbeit Rückenschmerzen und ihr Arzt habe geraten, sie müsse etwas für ihren Rücken tun. Die Kursleiterin rät ihr, auf eine rückengerechte Haltung zu achten und sie sei gerne bereit, ihr dies nach der Lektion zu zeigen. Worauf die Kundin sagt, das kenne sie schon alles, aber das vergesse sie während der Arbeit. Die Kursleiterin rät ihr, doch wenigstens nicht zu lange am Stück im Garten zu arbeiten. Frau B. antwortet, wenn sie schon mal Zeit habe für den Garten, dann müsse sie auch dran bleiben. Die Kursleiterin fragt, ob sie denn nicht ihren Mann um Hilfe bitten könnte. Frau B. meint, der habe keine Zeit, bei seinem Job. Wie wäre es denn mit einem Gärtner, der wenigstens die schweren Arbeiten verrichten könnte, entgegnet die Kursleiterin. Nein!, unmöglich, das sei viel zu teuer, jammert Frau B. Sie hoffe, dass diese Gymnastik ihr helfe.Die Kursleiterin sagt, dann solle sie doch 2 Lektionen pro Woche besuchen, dann sei der Effekt grösser. Das würde sie ja gerne, sagt Frau B., dazu fehle ihr schlicht die Zeit usw. Die Kursleiterin ist durch diese Haltung etwas irritiert, denkt sich aber, wenn Frau B. erste Erfolge habe, werde sie schon motivierter sein.

Frau B. besucht also den Kurs, jedoch unregelmässig. Die Kursleiterin befasst sich besonders intensiv mit frau B., wenn diese im Kurs ist. Nach einer gewissen Zeit reagieren die anderen Kursteilnehmer etwas unwillig, denn Frau B. beansprucht sehr viel Aufmerksamkeit für sich. Die Kursleiterin gerät unter Druck, denn sie nimmt den Unwillen in der Gruppe wahr. Ein Erfolg ist nicht in Sicht, und Frau B. winkt auch bei dem Vorschlag ab, doch den Arzt um Rat zu fragen. Der wisse es auch nicht besser. Eines Tages ruft Frau B. an und meint vorwurfsvoll, dieser ganze Kurs bringe ihr nichts, sie habe jetzt einen Naturheiler gefunden und der könne ihr ganz bestimmt helfen. Die Kursleiterin ist frustriert, denn sie hat sich sehr bemüht und alle möglichen Angebote gemacht. Sie zweifelt sogar an ihrem Können und bemüht sich in der nächsten Lektion um so mehr, alle zufrieden zu stellen.

Natürlich ist diese Geschichte etwas überspitzt dargestellt, sie passiert jedoch in Varianten immer wieder.

 
 
 

Rollenverteilung

Die Kursleiterin hat sich doch voll eingegeben und nach bestem Wissen gehandelt.
In der Transaktionsanalyse nennt man dies ein "Spiel". Natürlich ist das kein Spiel im üblichen Sinne, sondern ein psychologisches Spiel. Den "Spielteilnehmerinnen", also Frau B. und der Kursleiterin, ist es nicht bewusst, was da geschieht, "es passiert ihnen" einfach. Am Ende sind alle Beteiligten frustriert. Die Kundin, weil ihr ja wieder nicht geholfen wurde, die Kursleiterin, weil ihr die Kundin davongelaufen ist, wo sie sich doch so eingesetzt hat, und die übrigen Kursteilnehmer, weil sie sich missachtet fühlen.

In einem solchen Spiel - es gibt unzählige Varianten - gibt es drei Rollen zu verteilen: die Retterrolle, die Opferrolle und die Verfolgerrolle, auch Angreifer genannt. Jemand beginnt das Spiel, dazu braucht er oder sie einen Mitspieler. Nur wenn jemand mitmacht, kann dieses Spiel auch gespielt werden. Die Mitspieler wechseln während des Spiels die Rolle, d.h., die Retterin kann zum Opfer werden oder zum Verfolger oder sogar beides. Fast jeder Mensch hat sozusagen seine "Lieblingsrolle", auf die er anfällig ist und in die er immer wieder gerät. In der Transaktionsanalyse werden die verschiedenen Rollen so beschrieben:

Typische Retter/-Innen

Wer in der Retterrolle ist, erwartet für seine Hilfsbereitschaft und Aufopferung Anerkennung, Zuneigung und sogar Liebe. Und genau das ist die Falle: wer in der Retterrolle ist, macht dies nur selten aus reiner Gutmütigkeit, sondern er oder sie will bewundert werden für seine/ihre Taten. Das ist ja an und für sich noch legitim; das Problem beginnt dann, wenn jemand vor lauter Rettenwollen seine eigenen und die Grenzen des anderen nicht mehr wahrnimmt, das heisst z.B. helfen, ohne danach gefragt worden zu sein, oder mehr helfen als der Auftrag ist; Ratschläge erteilen. Wenn er oder sie nicht danach gefragt wurden; anderen Verantwortung abnehmen, die das Gegenüber selber tragen könnte. Retter/-innen trauen den anderen auch nicht viel zu und sie suchen förmlich nach Opfern.

Ich denke, unter den BewegungspädagogInnen sind einige anfällig für die Retterrolle. Darum gilt mein Hauptaugenmerk auch dieser Rolle. Typische Merkmale von Retter/-Innen sind:

- beziehen Selbstwert aus dem Engagement für andere
- werten eigene Bedürfnisse ab
- übernehmen mehr Verantwortung, als ihr Teil ist
- werten die Fähigkeit anderer ab, Probleme selber zu lösen
- wissen, was das Beste für andere ist
- helfen, ohne zu fragen, haben keinen Auftrag
- suchen die Abhängigkeit anderer

Typische Opfer

geben sich hilfloser, als sie sind; sie trauen sich selber nicht vieles zu und es ist ja so bequem, die anderen machen zu lassen und die Verantwortung abzugeben. Sie sehen nicht ein, dass sie für ihr Handeln Verantwortung tragen. Sie finden treffsicher auch immer wieder neue Retter. Opfer geben auch den Helfenden die Schuld, wenn in ihrem Leben etwas nicht klappt. Sie suchen sogar die Bestätigung, dass ihnen niemand helfen kann. Opfer halten meistens an ihrer Opferrolle fest, weil sie dann nie die Verantwortung tragen müssen.
Sie können ja nichts dafür!

Typische Verfolger/-Innen

sind Personen, die sehr kritisch sind und Fehler aufspüren, sich lauthals wehren, wenn ihnen etwas nicht passt und auch einen Streit nicht scheuen. Diese Eigenschaften können im normalen Rahmen sehr wertvoll sein. Der Verfolger im Sinne der Transaktionsanalyse ist aber richtig versessen darauf, die Fehler beim anderen zu suchen. Es geht ihm darum, seine Unzufriedenheit mit sich selber oder Trauer und Unsicherheit zu überdecken. Er hält seinen Selbstwert aufrecht indem er andere abwertet.

Wohl verstanden, fast jeder Mensch gerät in solche Spiele und somit in eine der erwähnten Rollen; was nicht heissen soll, dass er sich immer so verhält. Jeder Mensch hat, wie oben erwähnt, seine Favoritenrolle, die ihm besonders gut liegt.

 

 
 

 

Spielanalyse

Frau B. ist offensichtlich in der Opferrolle, denn sie lehnt jede Verantwortung für ihr Handeln ab und gibt sich völlig hilflos. Bereits der 1. Satz, dass sie etwas tun müsse, zeigt, dass sie das tut, was man ihr sagt. Ebenso aber lehnt sie jeden Vorschlag ab; denn eigentlich will sie ja gar nicht, dass ihr geholfen wird, denn das wiederum würde bedeuten, Verantwortung zu übernehmen.
Die Kursleiterin ist anfällig für die Retterrolle und stürzt sich förmlich in Ratschläge und fühlt sich überverantwortlich für Frau Bs Wohlergehen. Zudem will sie ja zeigen, wie man Probleme löst. Sie kümmert sich auch übermässig während der Lektionen um sie und behandelt sie wirklich wie ein Opfer. Sie merkt wohl, dass Frau B. nicht kooperativ ist und nimmt auch den Ärger in der Gruppe wahr; verzweifelt versucht sie zu retten.

Als Frau B anruft um mitzuteilen, sie komme nun nicht mehr, wechselt sie in die Verfolgerrolle, denn nun gibt sie sich nicht mehr hilflos, sondern vorwurfsvoll. Die Kursleiterin wechselt nun in die Opferrolle, fühlt sich hilflos und ausgenutzt.

Partnerschaftliches Vorgehen

Was tun? Schließlich sind wir ja in einem Beruf tätig, wo unsere Beratung gefragt ist - und wir wollen ja auch erfolgreich sein.
Kompetentes Handeln könnte so aussehen:

- Wenn eine Kundin sagt, sie müsse...., ist es sinnvoll nachzufragen, ob sie denn müsse oder wolle? Die Kundin wird einen Moment stutzen, denn jetzt geht es um ihren Teil der Verantwortung.

- Wenn eine Kundin von ihren Beschwerden erzählt, empfiehlt es sich, empathisch zuzuhören, aber nicht gleich Ratschläge zu erteilen.

- Die Kundin fragen, was sie selbst schon gegen die Beschwerden unternommen habe.

- Wenn eine Kundin eine ganze Litanei herunterzählt, was alles nicht geholfen habe, dann kann die Kursleitung fragen, ob sie denn von ihr ein Wunder erwarte.

- Die Kundin fragen, was sie von der Kursleitung bzw. den Lektionen erwarte.

- Nun kann die Kursleitung sagen, was realistisch ist und was nicht. Das bedingt, dass sie ihre eigenen Grenzen kennt und akzeptiert.

- Der Kundin sagen, was ihr Anteil ist; z.B. die Lektionen regelmässig besuchen, das Gelernte im Alltag anwenden, zusätzliche Übungen zu hause machen usw.

- Sollte eine Kundin die Zeit der Kursleitung übermässig beanspruchen, kann sie ihr eine Privatlektion anbieten. Denn die Kursleitung wertet ihre Arbeit ab, wenn die Leistung nicht verrechnet wird.

- Sich als Kursleitung bewusst sein, dass man nicht allen helfen kann, oder gerade deshalb kompetent ist.

Es kann gut sein, dass jemand, der sich stark in einer Opferhaltung befindet, den Kurs schon gar nicht beginnt, wenn er oder sie bemerkt, dass wir ihm oder ihr in der Gymnastik die Verantwortung nicht übernehmen wollen. Verbleibt ein solcher Kunde in der Gruppe, dann haben wir in ihm ein motiviertes Gruppenmitglied. Zwischendurch können immer Rückfälle in die Opferrolle auftreten.

Bei allen Rollen oder Verhaltensmustern handelt es sich nicht um ein bewusstes bösartiges Verhalten. Diese Prozesse laufen unbewusst ab, können aber durch eine entsprechende Schulung bewusst gemacht werden. Ein erster Schritt dazu ist, dass sich die Betroffenen ihres Rollenverhaltens bewusst werden. Für jede Gymnastiklehrerin oder Bewegungspädagogin ist es wichtig, dass sie dieses Rollenverhalten kennt und durch ein entsprechendes Verhalten nicht in die breit gestreuten Fallen tritt.

Artikel : Daniela Michel
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