Osteoporose
Teil 3(Gymness 3.Jahrgang/ 3/98

Dr. med. Bruno Baviera
Einleitung
Zunehmend wird einer breiteren Bevölkerungsschicht die Bedeutung der Osteoporose bewusst. Eine Vielzahl von Publikationen behandelt die diagnostischen und medikamentösen Möglichkeiten. Seit Jahren sehen sich PhysiotherapeutInnen mit der Folge von osteoporotischen Schmerzzuständen und Frakturfolgen konfrontiert. Auch noch so gut gemeinte Kursangebote führen selten zu einer, in den Alltag implementierbaren, Verhaltensveränderung. Nur das längerfristige Begleiten, Instruieren und Anleiten der Betroffenen zur korrekten Alltagsgestaltung kann die Compliance verbessern. Erst wenn die Betroffenen verstehen, warum etwas getan werden muss, und sie genau wissen, was, besteht eine gewisse Chance der Durchführung.
Die einmal wöchentlich durchgeführte Gymnastikstunde ist zu wenig reizwirksam, um eine strukturelle Veränderung an den Stütz- und Bindegeweben zu erzielen. Sie ist zu wenig wirksam, um die Leistungen bezüglich der Verbesserung der Koordination herbeizuführen, die ihrerseits die Grundlage ist, die deletären Stürze zu vermeiden.
Im Artikel Osteoporose Teil 2 " Von der Therapie zur Praxis" wurden relevante Gedanken zur Förderung der Beweglichkeit und Verringerung der Sturzgefahr dargelegt. In diesem Beitrag wird die Bedeutung der Ausdauer, der Kraft und der Ergonomie diskutiert. Der Umgang mit osteoporosebedingten Schmerzen ist ein weiterer Schwerpunkt. Weiter wird die Problematik der Motivation und der Zusammenarbeit mit anderen Fachpersonen im Osteoporosegeschehen dargestellt. Es ist meine Überzeugung, dass nur das optimale Zusammenwirken aller Beteiligten auf der Grundlage einer zielorientierten, offenen Kommunikation den Betroffenen wirkungsvoll dienen kann.
Förderung der Ausdauer
Durch Schlafmangel, Psychopharmaka oder fehlende Ausdauerleistungsfähigkeit ermüdete Systeme sind nicht reaktionsfähig! Durch eine monotone Lebensweise werden viele motorische Einheiten nicht in die motorische Arbeit integriert. Sie werden weniger gut rekrutierbar. Die verbleibenden motorischen Einheiten müssen immer wieder eingesetzt werden. Die Entlastung durch Abwechslung bleibt aus. Ermüdung führt zu einer Abnahme der Reaktionsfähigkeit. Ermüdung führt aber auch zu einer unökonomischen ligamentär gehaltenen, passiven Haltung. Die die Wirbelkörper optimal belastende Doppel-S-Form der Wirbelsäule kann nicht mehr aktiv gehalten werden. Eine Aufhebung vor allem der Lendenlordosierung ist die Folge. Gerade bei osteoporotisch reduzierter Belastbarkeit der spongiösen Wirbelkörper kann die asymmetrische Belastung zu ventral liegenden Einbrüchen führen. Keilwirbel mit Rundrückenbildung entstehen.
Die Möglichkeiten der Gymnastiklehrerin bestehen in der Förderung der koordinativen Fähigkeiten zu einer vermehrten Rekrutierung von motorischen Einheiten und in der Folge der lokalen Ausdauerleistungsfähigkeit der einzelnen Muskelfasern. Die Förderung der Rekrutierung der motorischen Einheiten geschieht durch das Lösen von ungewohnten motorischen Aufgaben wie zum Beispiel das immer wieder erneute Festigen des Gleichgewichts durch Labilisieren. Die Ausdauer der Muskelfaser wird gefördert, indem sie anhaltend aktiviert wird, bis zu den als subjektiv unbequem empfundenen Ermüdungserscheinungen.
Geeignete Mittel zur Förderung der Ausdauer sind alle Arten von Spielen. Anhaltendes Arbeiten bis zur Aktivierung der Thermoregulation, das heisst bis zum beginnenden Schwitzen. Längere Übungs- und Spielsequenzen auf dem Gymnastikball eignen sich hervorragend, die Gleichgewichtsreaktionen und somit auch die Ausdauerleistungsfähigkeit zu fördern. Länger anhaltende muskuläre Aktivitäten, wie sie bei monotoner Haltung gefordert werden, müssen immer wieder unterbrochen werden. Denn die durch die Anspannung resultierende Druckbelastung im Muskel selbst führt zu einer Einschränkung des Blutflusses in den komprimierten Gefässen. Auch der durch den wechselnden Druck geförderte Flüssigkeitsstrom wird so unterbrochen. Es herrscht Ernährungsnotstand. Krass ausgedrückt bedeutet Monotonie: lokal partieller Selbstmord.
Links : keine Osteoporose* *Rechts : Osteoporose
Förderung der Kraft
Kräfte entstehen in der Natur auf vielfältige Weise. So ziehen sich Massen durch die gegenseitige Wechselwirkung der Gravitation an. Wir werden von der Masse der Erde angezogen, oder anders ausgedrückt: wir müssen unser Körpergewicht selbst tragen. Die Krafteinwirkung auf uns wird umso grösser, je grösser unsere Masse ist. Vielleicht ist das der einzige Vorteil von Übergewicht. Der Kräfteeinfluss auf uns kann durch das Tragen von Zusatzgewichten in der Gymnastikstunde oder beim Wandern gesteigert werden. Studien bei bettlägrigen Patienten und an Astronauten zeigten, wie schnell der Knochenabbau vor sich geht, wenn die axiale Belastung unseres Skelettsystems fehlt. Insofern dient die Wassergymnastik durch den unvermeindlichen Auftrieb nicht der Belastung, wohl aber der Entlastung unserer Knochen. Zur Förderung der Beweglichkeit, der Entspannung und zum Waschen ist das Bad jedenfalls durchaus geeignet.
Weitere Kräfte, die unser Skelettsystem belasten, sind die Muskelkräfte. Der fördernde Einfluss auf die Knochendichte durch ein regelmässiges Krafttraining konnte wissenschaftlich nachgewiesen werden.
Gymnastik ist jedoch nicht sonderlich trainingswirksam bezüglich der Förderung der Muskelkraft. Die angebotenen zu überwindenden Widerstände sind meistens zu klein. Beim optimalen Krafttraining und unter dynamischen Bedingungen sollte eine Serie von 8-10 Wiederholungen mit einer Belastung von 50-70 Prozent der Maximalkraft erfolgen. Jede Trainingseinheit sollte etwa drei solche Serien enthalten. Da das Ziel des Krafttrainings aber speziell frakturgefährdete Skelettabschnitte, wie z.B. die Wirbelsäule oder die Oberschenkelknochen, belasten soll, bedarf es in der medizinischen Trainingstherapie speziell geschulter PhysiotherapeutInnen. Im allgemeinen Training bedarf es speziell geschulter Trainingsleiter. Wichtig ist bei jedem Training die Bestimmung der individuellen Ausgangslage und das Trainingsziel. Die natürlichste axiale Belastung für unser Skelettsystem ist das Wandern mit Rucksack oder einem Kind auf dem Rücken. Ein in diese Richtung hin arbeitendes Mittel ist der gezielte Einsatz von Fahrradschläuchen oder anderen Widerstand bietenden Gummibändern. Therabänder müssen genügend gefalten werden, um wirkungsvolle Widerstände anzubieten. Aus der Sicht der Osteoporoseprävention ist ein gut geführtes Krafttraining sinnvoll. Stehendes Arbeiten am Stehpult ist phasenweise dem Sitzen vorzuziehen. Diese Aspekte führen uns zur Bedeutung der Ergonomie.
Bedeutung der Ergonomie
Schmerzen, Gangunsicherheit, verringerter Visus und seelische Niedergeschlagenheit führen zu einer nach vorn gebückten Haltung. Sitzen an und auf nicht korrekt eingestelltem Mobiliar führt zur Aufhebung der Lendenlordosierung und Verstärkung der Rumpfkyphosierung. Die verstärkte ventrale Belastung der Bandscheiben und osteoporotische geschwächten Wirbelkörper kann zu den typischen Wirbelsäulenformveränderungen, die osteoporotische Buckelbildung, führen. Diese zum Teil durch Frakturbildung erzeugte Formveränderung ist auch eine Quelle immer wieder auftretender Rückenschmerzen. Das einseitige Tragen von Gewichten führt zur Achsenabweichung in der Frontalebene.
Die Gymnastiklehrerin ist deshalb angehalten, in der Osteoporosestunde die Wirbelsäulenform entlastenden Prinzipien zu vermitteln. Nur die dauernde Repetition der Grundlagen und die Versicherung über die effektive Umsetzung des Gelernten zuhause bringt den erwünschten Erfolg. Auch hier würde sich ein Augenschein vor Ort lohnen. In welcher Sitzposition wird ferngesehen? Welche Körperhaltung wird bei stehenden Arbeiten eingenommen? Sie erinnern sich: Ein Besuch in der Wohnung zeigt erst die Vielfalt der Sturzquellen auf. Auch die ergonomische Gestaltung der Wohnung wird möglich. Bei manifester Osteoporose muss auch das Tragen mit langen Hebelarmen vermieden werden. Vielleicht muss das am häufigste benutze Geschirr oder die am häufigsten benutze Wäsche im Schrank umgelagert werden.
Oft leiden ältere Menschen an arthrotisch bedingten Schmerzen an Hand- oder Fingergelenken. Die Rheumaliga, die Ergo- und Physiotherapeutin beraten bezüglich entlastender Hilfsmittel. Das dahinterliegende Prinzip ist oft die Verlängerung von Hebelarmen zur Überwindung von grossen Drehmomenten. Im normalen Handel sind viele Haushaltsgeräte erhältlich, die zum Gelenkschutz dienen können. Je mehr die Gymnastiklehrerin um diese Belange weiss, umso umfassender kann sie beraten.
Das korrekte Sitzen auf dem Gymnastikball muss instruiert werden. Meistens sind die Sitzbälle zu tief, was eine Beckenaufrichtung erzwingt mit einer darauffolgenden Aufhebung der Lendenlordosierung. Betroffener, Stuhl und Tisch bilden immer eine funktionelle Einheit. Das Ziel ist immer die physiologische Form der Wirbelsäule - wenn möglich dynamisch realisiert.
Auch die gemeinsame Suche nach aktivierenden Freizeitgestaltungsmöglichkeiten kann der Ergonomie zugeschrieben werden. Je nach Alter und invidueller Belastungsfähigkeit empfehlen sich andere Sportarten. Wandern, Walking, Skilanglauf oder Waldlauf sind auch für betagte Menschen trainingswirksame Möglichkeiten. Neuere Untersuchungen zeigten, dass Belastungen mit kleinen Stössen besonders wachstumsfördernd sind. Somit würden sich Seilspringen, Hüpfen und Tanzen anbieten.
Schmerzhafte Zustände
Osteoporosebedingte Schmerzen weisen oft auf Frakturen oder im Röntgenbild nicht erkennbare Mikrofrakturen hin. Bei neuauftretenden Schmerzzuständen sollte die Ursache immer durch den Hausarzt abgeklärt werden. Zudem sollte der Arzt auch die Belastungstoleranz für die Gymnastik und allfällig Kontraindikationen festlegen. Leider führt die Angst vor Schmerzen oft zu übermässigen und zu lange dauernden Immobilisation. Fehlhaltungsbedingte Überbelastungen der Wirbelsäule können Schmerzen erzeugen. Bänder- und Muskelansatzstellen sowie die Wirbelgelenke können irritiert, entzündet und somit schmerzhaft werden. Wirbelgleiten, Formveränderungen der Wirbelkörper und Bandscheiben könenn zur Einengung des Spinalkanales führen und so auch ins Bein oder in die Arme ausstrahlende Schmerzen verursachen.
Immobilisation als solche führt zur Ausbildung von molekularen Querbrücken der bindegewebigen Strukturen und zu einer verminderten Gleitfähigkeit. Werden bei entsprechender Mobilisation diese Strukturen zu schnell gedehnt, können chemische Reizzustände zu Schmerzen führen. Die Natur ist in der Ursachengestaltung von Schmerzzuständen ordentlich kreativ. Zu guter Letzt ist Leben eigentlich immer schmerzhaft. Eine gewisse Ruheaktivität in den Schmerzsystemen wird normalerweise durch den Einfluss der Aktivität dauerend gehemmt. Fällt diese hemmende Aktivierung bei Immobilisation weg, tut auch gesund sein weh.
Die Bedeutung von warmen Bädern, Wickeln und einer wärmehaltenden Kleidung sind Thema für die Gruppenarbeit mit älteren Osteoporosepatientinnen. Entlastungsstellungen und Lagerungsmöglichkeiten können in der Gruppe ausprobiert und diskutiert werden. Als Arzt staune ich oft über den enormen Erfahrensschatz, den die Patienten besitzen, um mit ihren Schmerzen umzugehen. Abschliessend muss festgehalten werden, dass eine ausgleichende Belastung des Bewegungssystems eine gute Schmerztherapie ist. Die Belastungslimite muss aber immer vom behandelnden Arzt festgehalten und der Gymnastiklehrerin mitgeteilt werden.
Die Bedeutung der Motivation
Die primäre Motivation ist der oft unbewusste, zutiefst liegende Antrieb etwas zu tun. Bei fehlenden Schmerzen oder sicht- und spürbaren Veränderungen sind Menschen oft nicht gewillt, an zielorientierten Bewegungsprogrammen teilzunehmen. Ist die primäre Motivation das Durchdringen einer sozialen Einsamkeit, führt das zum Besuch einer Gruppenaktivität. Werden nun trainingswirksame Aktivitäten von den Teilnehmerinnen gefordert, ist der Erfolg nicht überzeugend. Osteoporoseprogramme sollten gezielt ausgeschrieben werden, sodass die Teilnehmer auch die nötige tragende Primärmotivation zum Training haben.
Die Sekundärmotivation ist die dem Besucher meistens bewusst zugängliche Motivation. Werden gesundheitsfördernde Ziele als Antrieb deklariert und stehen soziale Ansprüche an die Gruppe, natürlich unbewusst, im Vordergrund, kann den Ansprüchen nicht genügt werden. Die Folge ist ein Abbruch der knochenaufbaufördernden Massnahmen - der Misserfolg ist programmiert. Oft ergänzen sich jedoch Primär- und Sekundärmotivation mit den angebotenen Zielen in der Osteoporoegruppe. Es bedarf eines grossen Geschickes der Gymnastiklehrerin, die psychologischen Bedürfnisse der Teilnehmer mit den deklarierten Zielen der Osteoporoseprophylaxe in Einklang zu bringen. Training schliesst ja Begegnung nicht zwangsmässig aus.
Ausklang
In dieser dreiteiligen Artikelserie habe ich versucht, den Leser in einige grundsätzliche Gedanken der Osteoporosearbeit einzuführen. Ich hoffe, dass ich beim Leser das Interesse für diese anspruchsvolle Arbeit wecken konnte. Wissen, guter Menschenverstand und gymnastisches Können sind die Grundlage für eine effziente und zielorientierte Osteoporoseprävention. In die Osteoporosearbeit sind viele Fachpersonen involviert: Ärzte zur Diagnoseerstellung und Einleitung von medikamentösen Therapien. Physiotherapeutinnen und Ergotherapeutinnen zur Förderung der funktionellen Leistungsfähigkeit sowie zur Schmerzbehandlung. Ernährungsberaterinnen zur Veränderung der Ernährungsgewohnheiten. Gymnastiklehrerinnen zur langfristigen Festigung des Gelernten und Hinführen zu einer risikoarmen, aktiven Lebensgestaltung. Sozialpädagoginnen und Psychologinnen müssen beigezogen werden, um soziale oder psychische Probleme aufzuarbeiten.
Die Osteoporosearbeit steht nicht im leeren Raum. Sie bedient sich der Kenntnisse der gymnastischen Mittel, der Rückenprävention, der altersspezifischen Fragen, der pädagogischen Fähigkeiten und der Kenntnisse der biologischen Zusammenhänge, seien sie physikalischer, chemischer oder trainingsphysiologischer Natur. In diesem Sinne wünsche ich allen an dieser Arbeit Beteiligten viel Freude an der Gestaltung dieses Gesamtkunstwerkes.--Bruno Baviera