Osteoporose
Teil 2 (Gymness 3.Jahrgang/ 2/98)
Von der Theorie zur Praxis
Dr. med. Bruno Baviera
Einleitung
Wie stark das Interesse an der Osteoporose-Problematik bei den Gymnastiklehrerinnen ist, konnte ich an den 1997 begonnenen Osteoporose-Kursen feststellen. Wie bei jeder prophylaktischen oder therapeutischen Tätigkeit, geht es auch hier um eine klare Zielvorstellung: Was können und wollen wir weshalb tun? Natürlich sind wir uns bewusst, dass Gymnastiklektionen nur von dazu motivierten Menschen besucht werden. Leider sind das nur sehr wenige, die das aktiv und erst noch prophylaktisch tun. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass junge Menschen kaum etwas dafür investieren wollen, um im - zudem nicht garantierten - 70. Lebensjahr keine osteoporotische Fraktur zu erleiden.
Die ausgewiesene Handlungskompetenz der Gymnastiklehrerinnen auf einer nachvollziehbaren theoretischen Grundlage kann lokal jedoch dazu führen, dass behandelnde Hausärzte und Hausärztinnen ihre Patientinnen vermehrt der Gymnastik zuführen. Ein durch Fachwissen gefestigtes Selbstvertrauen findet auch Wege, die entsprechenden Angebote den Ärzten in der Umgebung bekannt zu machen.
Wichtig erscheint mir die klare Trennung zwischen der Primärprävention der Therapie und der Sekundärprävention. Die Primärprävention zielt darauf hin ab vorzusorgen, dass in der Folge keine Schädigungen entstehen. Die Therapie versucht, bei eingetretenen Schäden den Heilungsverlauf günstig zu beeinflussen. Bei der Sekundärprävention wird versucht, bei schon bestehenden Schäden weitere Schädigungen zu vermeiden.
Nach heutigem Wissensstand ist für die Frau nach der Menopause eine frühzeitige Hormonersatztherapie mit Oestrogenen am wirksamsten. Mit dem Hormonersatz sollte vorteilhaft im Zeitraum zwischen der Menopause bis etwa 5 Jahre danach begonnen werden. Zudem muss auf eine genügende Kalziumzufuhr in der Nahrung geachtet werden. Alle, auch gymnastische Massnahmen, nützen nichts, wenn das Knochengewebe bereits zerstört ist. Sind die Knochenbalken abgebaut, können sie nicht mehr ersetzt werden.
Für die Gymnastiklehrerin erscheint mir von zentraler Bedeutung, dass sie über die Stoffwechselprobleme des Osteoporosegeschehens informiert ist. In der Betreuung der Betroffenen geht es um ein synergistisches Vorgehen von Arzt und Gymnastiklehrerinnen. Viele Patientinnen haben berechtigterweise Mühe, dauernd Hormone einnehmen zu müssen. Oft werden verordnete Medikamente nicht eingenommen. Es ist eine wichtige Aufgabe der Osteoporosegruppe, gemeinsam die Betroffenen dahin zu führen, dass sie ihre Ängste mit konkret formulierten Fragen ihrem Arzt mitteilen. Zudem wurde wissenschaftlich eindeutig nachgewiesen, dass eine angepasste Oestrogensubstition das Mortalitätsrisiko einer koronaren Herzkrankheit deutlich senken kann. (W. Hänggi: Hormonersatztherapie, Kreislauf, Organe und Skelett, In: Der Informierte Arzt 4/98 p. 171-174).
Nur die offene Zusammenarbeit zwischen den Betroffenen, den Ärzt/Innen und Gymnastiklehrerinnen führt zu einer optimalen Verhinderung der Osteoporosefolgeerscheinungen, wenn nicht gar der Osteoporose selbst. Osteoporose "Von der Therapie zur Praxis" erfolgt in zwei Teilen. In diesem Beitrag wird auf die Ziele und Schwerpunkte der Primär- und Sekundarprophylaxe eingegangen. Gewürdigt wird zudem die Wichtigkeit der Beweglichkeit und der Verringerung der Sturzgefahr.
Primärprävention
Das Ziel der Primärprävention ist die Vermeidung der Osteoporose und ihrer Folgen. Unsere Bemühungen setzen bereits im Kindesalter an und gehen bis weit über die Menopause hinaus. Bei den Kindern gilt es vor allem, den natürlichen Bewegungsdrang nicht zu bremsen. Im Rahmen des für die Eltern und die Lehrer Ertragbaren sollten die Kinder so wenig wie möglich immobilisiert werden. Vielleicht lässt sich etwas von dieser spontanen Bewegungsvielfalt über die Pubertät hinaus retten. Vielleicht kann so der in den Bändern hängende "no bock for future" etwas verringert werden. Vielleicht gelingt vorpubertär eine tragende Einbindung in eine nicht sektierische Jugendgruppe wie Pfadfinder oder Sportverein.
Das Hinführen zu einer so weit wie möglich naturbelassenen Ernährung kann vielleicht Ernährungsgewohnheiten festigen, ohne dass später immer noch jedes Mc-Donald-Restaurent aktiv umfahren werden muss. Aber Coca-Cola und Pommes Frites - auch noch so voluminös verpackt - sind der Knochenbildung nicht dienlich. Das einzige Positive dieser Schnellimbissstuben sind die unbequemen Stühle, die nicht zum längeren Sitzen einladen.
Das Bewegen im Freien exponiert die Haut der UV-Strahlung der Sonne und ist die Grundlage der körpereigenen Vitamin-D-Produktion. Für die Kinder gilt: Sonnenexposition ja, Sonderbrand nein! Das Engagement der Gymnastiklehrerin in der Schule hilft auch hier, ein rückenschonendes Verhalten zu beachten. Somit ergeben sich für die Gymnastiklehrerin in der Primärprävention folgende Möglichkeiten:
- Hinführen zu Bewegungsfreude
- Hinführen zu einer knochenaufbaufördernden Ernährung
- Meiden von knochenabbaufördernden Genussmitteln
- Beachten von wohldosierter Sonnenexposition
- Einbringen von ergonomischen Prinzipien in Schule, Lehre, Beruf oder Freizeit
Wirbelsäule, keine Osteoporose
Wirbelsäule , Osteoporose
Sekundärprävention
Das Ziel der Sekundärprävention ist das Vermeiden von Sekundärfolgen auf der Grundlage der bereits bestehenden Osteoporose, das Vermeiden der vermeidbaren Weiterbildung des Knochenabbaues und das Fördern der knochenaufbauenden Massnahmen.
Förderung der Beweglichkeit
Verkürzte Strukturen des Bewegungssytems schränken unsere Beweglichkeit ein. Eine eingeschränkte Beweglichkeit behindert die Bewegungsmöglichkeiten und führt wiederum zu Bewegungseinschränkung. Wer rastet, der rostet! Die Länge der passiven wie der aktiven Strukturen unseres Bewegungssystemes hängen massgeblich von deren dauernden Längenbeanspruchung ab. Wenige Wochen der Unterforderung bezüglich der Längenbeanspruchung führen zur Verkürzung von Bändern, Gelenkskapseln und anderer bindegeweblichen Strukturen sowie auch der Muskulatur. Plötzlich eintretende Belastungen der Gelenke bei unachtsamen Bewegungen oder Stürzen können bei einer eingeschränkten Ausweichbeweglichkeit nicht mehr kompensiert werden. Stürze können eine Folge sein. Ein regelmässiges, korrekt durchgeführtes Dehntraining ist die Grundlage für eine genügende Längenreserve. Muskelfasern können strukturell oder funktionell verkürzt sein. Strukturell verkürzte Fasern bedürfen regelmässiger und langdauernder Dehnreize. So können zusätzliche Sarkomere angebaut werden. Bei funktionellen Verkürzungen muss die Ursache, die zu einer übermässigen Innervation führt, vermieden werden. Die Unterscheidung zwischen den zwei Verkürzungsarten wird durch eine postisometrische Relaxion durchgeführt. Immer aber ist die zur Verkürzung führende Ursache, die meistens im Alltag liegt, zu eruieren und zu beeinflussen.
Verringerung der Sturzgefahr
Eine häufige Ursache der Morbidität und Mortalität bei Osteoporosepatientinnen sind die Stürze.
a) Äussere Ursachen
Oft können Stürze durch einfache Anpassungen im Haushalt vermieden werden. Diese Massnahmen mit den Kursteilnehmerinnen innerhalb der Gruppe zu besprechen ist unabdingbar. Eine gute Möglichkeit wäre auch ein Besuch bei den einzelnen Teilnehmerinnen, um gleich vor Ort Fallen zu eruieren und zu beheben. Dazu einige Beispiele: Schlecht sichtbare Türschwellen, Teppiche, Treppenstufen oder aufgerollte Teppichränder sind oft Anlass zum Stolpern. Falsch plazierte Möbel mit eckigen Kanten können Stürze einleiten, wenn man sich daran stösst.
Schlechte Lichtquellen in Toiletten, Gängen und Treppenhäusern sind Sturzquellen. Das Anbringen von hellen Markierungsstreifen, das Umplazieren von störenden Möbeln, das Ankleben von Teppichen und das Montieren von besseren Lichtquellen kann helfen, Stürze zu vermeiden. Die Empfehlung, beim Optiker die Wirksamkeit der momentan benötigten Brille zu kontrollieren, ist eine weitere Massnahme. Das Putzen von Küchenfenstern und Schränken - wenn dazu eine Leiter oder ein Stuhl benötigt wird - sollte den Kindern oder Enkeln überlassen werden. Bei Gang- und Standunsicherheit sind die Betroffenen auch auf die Nebenwirkungen von sedierenden Medikamenten hinzuweisen. Schwindelanfälle, Herzrhythmusstörungen, Gefühlsstörungen in den Beinen, schmerzhafte Zehen oder Gelenke sollten ärztlich abgeklärt werden.
b) Innere Ursachen
Stop talking when walking! Mit zunehmender Alterung nimmt nicht nur die biomechanische Belastbarkeit der Knochen ab, sondern auch die Leistungsfähigkeit des zentralen Nervensystems. Während der letzten Jahre wurde die Problematik der gleichzeitigen Verarbeitung von verschiedenen Anforderungen an das Zentralnervensystem untersucht. (The Assessement of Motor Recovery, Theo Mulder 1996). Das Gehirn kann bei der gleichzeitigen Lösung einer motorischen und kognitiven Aufgabe überfordert sein. So unterbrechen Betroffene oft ihr Gehen, wenn sie in ein Gespäch verwickelt werden. Oder es klingelt das Telefon, während das Gemüse zubereitet wird. Die schnelle Umstellung auf ein anderes Ziel hin führt dann zu Störungen bei der Ausführung des neuen Zieles.
Gleichgewichtsreaktionen sind erlernte Fähigkeiten. Werden sie nicht gebraucht, verlernen wir diese motorischen Fähigkeiten. Die Einschränkung des Bewegungsraumes - vielleicht wegen sozialer Isolation - schränkt auch die Anforderungen an unser zentrales Nervensystem ein. Es ist die Aufgabe der Gymnastiklehrerin, die Gleichgewichtsreaktionen und die Geschicklichkeit bei den Betroffenen zu fördern. Wichtige Parameter dazu sind: die Verkleinerung der Unterstützungsfläche, die Erhöhung des Körperschwerpunktes, die Labilisierung oder Aufrauung der Unterstützungsfläche durch Hindernisse und das Arhythmisieren von äusseren Taktgebern.
Ausgezeichnete Mittel dazu sind: Übungen und Spiele auf dem Gymnastikball, Spiele im Einbeinstand oder auf dem Therapiekreisel oder Minitramp. Das Gehen auf unebenen Böden wie im Wald oder barfuss im Sand oder Kies. Die glattpolierten Böden der Gymnastikstudios laden eher zum Ausgleiten als zur Förderung der Gleichgewichtsreaktionen ein. Hindernisläufe mit geschlossenen Augen, geführt durch einen sehenen Partner, stellen ungewohnte Anforderungen an das zentrale Nervensystem. Die Wegnahme der visuellen Kontrolle zwingt das Nervensystem, die anderen sensorischen Eingänge als Grundlage der motorischen Performance zu verwenden. Übungen mit Zuwerfen von Tüchern und Luftballons, deren Flugbahn nicht vorhersehbar sind, stellen das sensorische System immer wieder vor neue Aufgaben. Die Taktgebung durch Musik auf das sensorische System erlaubt diesem, den nächsten Bewegungszyklus vorweg zu planen. Rhythmus kann die Bewegungsausführung unterstützen. Zur Erschwerung der Aufgabe sollten diese deshalb arhythmisch getaktet werden. Das auf Antizipation bedachte Nervensystem muss nach allen Regeln der Kunst getäuscht und somit gefordert werden.
Alle diese zuerst ungewohnten Aufgaben sollten die Schnelligkeit des Systems dahin trainieren, auf plötzliche, neue Aufgaben reagieren zu können. Stürze sind oft das Resultat einer ungenügenden sensomotorischen Reaktionsfähigkeit.
Ausblick
In therapeutischem und präventivem Tun müssen wir uns immer die Frage nach dem warum stellen. Das unerwartete Interesse der Gymnastiklehrerinnen für die Osteoporoseproblematik motiviert mich, die Vielfalt der Zusammenhänge und gymnastischen Möglichkeiten vertieft darzustellen.
Bildnachweis: Foto: B.Baviera, Grafik: MSD, Dichtemessung:Osteoporose-Zentrum Schinznach-Bad, Dr. C. Merlin