Unser Nervensystem - ein Verarbeitungssystem
Dr. med. Bruno Baviera
Auszug: Gymness Nr. 2/ 2002
 
Nervensystem und Gymnastik

Ohne Grundkenntnisse der Funktionsweise des Nervensystems scheint mir eine zielgerichtete gymnastische Tätigkeit nicht möglich zu sein. In allen Kursen, die ich gebe, stelle ich immer wieder fest, wie wenig die TeilnehmerInnen über das Nervensystem wissen. Natürlich handelt es sich um eines der komplexesten Systeme unseres Körpers. Dennoch können wir vieles darüber aussagen, was für die gymnastische Tätigkeit nützlich ist.

Neben dem lustbetonten sich Bewegen hat die Gymnastik natürlich auch zum Ziel, die körperlichen, psychischen und sozialen Leistungsfähigkeiten zu steigern. Diese Leistungssteigerungen betreffen zum Teil die Gewebe direkt oder aber indirekt über das Nervensystem, das wiederum seinen Einfluss auf das Hormonelle und das Immunsystem hat.

Neben den primären Sinnesorganen sind vor allem die Haut und auch der Bewegungsapparat eigentliche Sinnesorgane. Aus didaktischen Gründe versuche ich, drei Hauptsysteme zu unterscheiden :

- Betriebssystem
- Bewegungssystem
- Steuerungssysteme

Die Hauptfunktion des Betriebsystems ist die Bereitstellung der Stoffwechselgrundlagen. Dazu zählen wir das Atmungssystem, das Herzkreislaufsystem und das Verdauungssystem mit allen Ausscheidungssystemen. Das Bewegungssystem setzt sich aus dem Skelettsystem mit all seinen gelenkigen Verbindungen und der Skelettmuskulatur zusammen. Die Steuerungssysteme umfassen das Nervensystem, das Immunsystem und das Hormonsystem. Selbstverständlich bestehen zwischen all diesen Systemen komplexe Interaktionen.

Die Haut als Eintrittspforte zum Nervensystem

Die Haut, vor allem die des Menschen, ist ein komplexes Organ. Sie dient der Abgrenzung unseres Körpers nach aussen und hat somit sicher primär eine grosse Schutzfunktion. Zudem dient sie aber auch der Reizaufnahme und Reizumwandlung in die Sprache des Nervensystems, d.h. in Aktionspotential-Muster. Vieles über die Umwelt erfahren wir über die Haut. Zudem ist sie auch Effektor-Organ, insbesondere im Rahmen der Thermoregulation. So kann sie über die Weite der Blutgefässe und die Aktivität der Schweissdrüsen die Wärmeabgabe vom Körperinneren nach aussen stark regulieren.

Auch die Sensoren (Rezeptoren) der Muskulatur, der Gelenke und der inneren Organe liefern wichtige Informationen über den Zustand und die Dynamik unseres Körpers. Diese Rezeptor-Funktion hat auch eine grosse Bedeutung für die Steuerung der Motorik. Über die Haut nehmen wir auch im Spiegel unsere äussere Gestalt wahr und bilden somit ein Bild von uns selbst. Insofern hat die Haut sehr viel mit unserer Selbstwahrnehmung zu tun und ist deshalb für unser Selbstverständnis ausserordentlich wichtig. In der Massage ist sie die Eintrittspforte für die von aussen angewendeten mechanischen Reize. Jede mechanische Reizung aktiviert die in der Haut liegenden Rezeptoren und auch diejenigen der darunter liegenden Schichten.

In der Gymnastik wird die Bedeutung der Haut meines Erachtens noch viel zu wenig wirkungsvoll eingesetzt. Berührungen mit Bällen, grobfasrigen Textilien, Abklopfen und Massieren wären Möglichkeiten, auch diesen Zugang zum Nervensystem zu nutzen.

 
Das Bewegungssystem als Eintrittspforte zum Nervensystem

Die Gelenkkapseln sind ausgiebig mit Bewegungsrezeptoren und Nozizeptoren versehen. Da der Knorpel nicht innerviert ist, erhält das zentrale Nervensystem die Informationen über die Gelenke aus der Gelenkkapsel. Eine sämtliche Gelenke umfassende Gymnastik ist so als ein sensorisches Training zu betrachten.

Auch die quergestreifte Skelettmuskulatur ist mit einer Vielzahl von Muskelrezeptoren, sogenannten Muskelspindeln, versehen. Es wird geschätzt, dass pro Gramm Skelettmuskulatur etwa 20 Muskelspindeln vorliegen. Diese Muskelspindeln sind vorwiegend Dehnungsrezeptoren und springen auf Muskellängen - Veränderungen an. Insofern zeigen sie ein sehr dynamisches Verhalten, allerdings mit einer hohen Adaptionsfähigkeit. Adaption bedeutet Abnahme der Erregungsfrequenz bei konstant bleibendem Reiz.

Desweiteren messen die Muskelspindeln auch den Längenzustand der Muskulatur. Diese Arbeitsweise wird statisch genannt. Schon in diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erkennen, dass viele Rezeptoren auf Veränderungen reagieren. Das Nervensystem scheint also vorwiegend an Daten über Veränderungen interessiert zu sein. Diese Veränderungen, vor allem im Bewegungssystem, bietet die Gymnastik. Zur Rezeptorphysiologie weitere Informationen in noch folgenden Beiträgen.

Funktionen des Nervensystems

Sensomotorik

Die Funktionen des Nervensystemes sind ausserordentlich vielfältig. Vor allem dient das Nervensystem der Informationsverarbeitung und der Informationsübertragung auch über weite Strecken im Körper. Die vorwiegende Ausdehnung unseres Körpers bedingt bei den bestehenden Anforderungen an uns eine schnelle Kommunikationsleistung. In Sekundenbruchteilen müssen zum Beispiel Informationen aus den Füssen an die Verarbeitungszentrale, d.h. das Gehirm übermittelt werden. Nach den entsprechenden Verarbeitungsvorgängen müssen die entsprechenden Signale die Muskulatur insoweit beeinflussen, dass sinnvolle Reaktionen möglich werden, hier zum Beispiel ein motorisches Verhalten. Wir sehen bereits hier, dass die Motorik wesensmässig von der Sensorik - also von den Zugängen zum Nervensystem abhängig ist.

Viszeromotorik

Auch die Tätigkeiten der mit glatten Muskeln versehenen inneren Organe sind vom Nervensystem abhängig. So wird zum Beispiel die Tätigkeit des Magen- Darm - Trakts, des Herzens, der Luftwege, der Blase und der Harnwege sowie die Weite der Blutgefässe vom so genannten vegetativen Nervensystem gesteuert. Das Nervensystem hat somit auch eine Funktion in der Atmung, in der Herzkreislauftätigkeit, in der Verdauung, in der Blutdruck- sowie der Thermoregulation.

Wahrnehmung, Kognition und Emotion

Wichtig ist die Erkenntnis, dass nur der geringste Bruchteil sämtlicher Informationen, die aus der Umgebung oder aus unserem Körper stammen, im Gehirn zu bewussten Wahrnehmungen verarbeitet wird. Wahrnehmungen haben immer auch eine emotionale Komponente. Emotionalität ist als Handlungsantrieb oft wichtiger, als wir denken. Das Gehirn ist sicher auch der Ort der kognitiven uund psychischen Leistungen, die immerhin so potent sind, dass wir ein Selbstbewusstsein entwickeln konnten. Dieses Selbstbewusstsein und die zentral - nervöse Steuerung und Regulation unserer körperlichen Fähigkeiten konnten so weit führen, das Antlitz unseres Planeten so zu verändern, wir er heute vorliegt.

Schmerzwahrnehmung

Leider kann das Nervensystem auch unangenehme Wahrnehmungen produzieren, nämlich Schmerzen. Dass Schmerzen nicht nur auf äusserliche Verletzungen hin entstehen, sondern auch im Gehirn selbst produziert werden können, ist eine Erkenntnis der letzten Jahre.

Körperbewusstsein

Leider wurde erst durch Störungen im Nervensystem vieles über seine Funktionsweise bekannt. Die meisten Leistungen des Nervensystems sind uns, wie schon gesagt, nicht bewusst. Ein Ziel der Gymnastik kann sein, über die Aktivierung des Nervensystems ein besseres Körperbewusstsein zu entwickeln und dem Bewusstsein vermehrt zugänglich zu machen, was sonst nicht bewusst wird. So hat die Gymnastik über das Nervensystem auch einen Einfluss auf den schonenden Umgang mit unserem eigenen Körper und vielleicht auch in der Folge davon mit unserer Umwelt und den anderen Menschen in unserer Gesellschaft. Dieser Aspekt ist gerade für die sogenannte Gesundheitsvorsorge von grosser Bedeutung.

Netzwerke aus Milliarden Zellen

Zur Illustration möchte ich dem Leser einen Text aus dem Tagesanzeiger vom 10. April 2002 von rws zitieren:
Arbeitet das Gehirn als integrales Ganzes, oder gibt es viele in sich geschlossene Hirnzentren? Der heutige Erkenntnisstand sagt: Beides ist der Fall. Es gibt unzählige Zentren und Unterzentren in den verschiedenen Hirnteilen, für unsere Wahrnehmungen, aber auch für die unterschiedlichen Gefühle, für all die verschiedenen Arten von bewussten und unbewussten Handlungen. Wir haben z.B. weit über 100 Gedächtnisschubladen für Namen, Gesichter, Objekte, Szenen, Geräusche, Melodien, Muttersprache, Fremdsprachen, Emotionen, Autobiographisches und Faktenwissen. Das Gehirn ist, wie man sagt, modulartig aufgebaut. Die einzelnen Module, die unendlich viele Zentren und Unterzentren, arbeiten aber permanent in einem grossen und komplizierten Netzwerk zusammen.

Beim Denken z.B. sind immer auch Sprach- und visuelle Zentren für die bildlichen Vorstellungen aktiv. Dabei sind in jeder Sekunde Milliarden von Nervenzellen oder Neuronen miteinander verbunden und aktuell je anders zusammengeschlossen. Auf diese Weise werden blitzschnell die Verbindungen zwischen einzelnen Zentren auf und abgebaut. So ergeben sich unzählige verschiedene Zustände, je nachdem, welche Regionen beteiligt sind. Dabei wirken die Hirnteile des Unterbewussten im Klein,- Mittel,- Zwischen- und Endhirn mit demjenigen des Bewussten in der Grosshirnrinde aufs engste zusammen.

 
Grobbau des Nervensystems
Gliederung des Nervensystems

Das Nervensystem des Menschen ist in zwei grosse Abschnitte zu gliedern:

- Zentrales Nervensystem
- Peripheres Nervensystem

Das zentrale Nervensystem (ZNS) besteht aus dem Gehirn und dem Rückenmark. Das periphere Nervensystem (PNS) besteht aus allen peripheren Nerven. Nervenfasern, die zum ZNS hinführen, nennt man afferente Nervenfasern; solche, die vom zentralen Nervensystem nach aussen führen, nennt man efferente Nervenfasern. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass die meisten Nerven, d.h. Nervenfaserbündel gemischte Nerven sind - also aus afferenten und efferenten Nervenfasern bestehen. In diesem Zusammenhang wird das die inneren Organe innervierende sogenannte Nervensystem zum peripheren Nervensystem gezählt.

Das zentrale Nervensystem setzt sich zusammen aus :

- Endhirn (Telencephalon)
- Zwischenhirn (Diencephalon)
- Mittelhirn (Mesencephalon)
- Brücke (Pons)
- Kleinhirn (Cerebellum)
- verlängertes Rückenmark (Medulla oblongata)
- Rückenmark (Medulla).

Mittelhirn, Brücke und verlängertes Rückenmark werden als Hirnstamm bezeichnet. Im Anschluss an das Gehirn folgt das Rückenmark, das bis zum thorakolumbalen Übergang der Wirbelsäule reicht.

Das vegetative Nervensystem setzt sich zusammen aus :

- Sympathisches Nervensystem
- Parasympathisches Nervensystem

Je besser wir die Funktionsweise unseres Körpers und somit auch unseres Nervensystems verstehen, umso besser können wir unsere Mittel zum Wohle unserer Kundinnen und Patientinnen einsetzten.

 

Bruno Baviera