Unser Nervensystem - Regionen und Funktionen
Dr. med. Bruno Baviera
Auszug: Gymness Nr. 3 / 2002
 
Qual der Wahl
Dass die Grundlagenkenntnisse der Funktionsweise des Nervensystems für Bewegungslehrerinnen und -lehrer für ihr Handeln notwendig sind, ist einleuchtend.
Wie tief dieses Wissen greifen soll, kann und muss diskutiert werden. Wie stark Komplexes vereinfacht werden darf, darüber lässt sich streiten. Doch die Auswahl aus der Menge des Beschriebenen wird zur Qual. Dennoch soll, irgendwie praxisrelevant, der Versuch gewagt werden, eine Auswahl zu treffen. Oft muss die Lust, tiefer zu erklären, unterbrochen werden. Jeder Begriff führt zu Verbindungen mit anderen Begriffen. Das fühlende, denkende, erkennende, sich erinnernde und handelnde Menschsein lässt sich nicht teilen.
Gegenseitige Beeinflussung von Funktionen

Die mengengerechte und zeitkorrekte Aktivierung der motorischen Einheiten zum Erreichen eines Zieles erfordert hochkomplexe höhere motorische Aktivierungsmuster. Diese werden auf der Basis von visuellen, vestibulären, propriozeptiven und exterozeptiven sensorischen Einflüssen generiert. So ist das sensorische System eine Grundlage des motorischen Systems.

Schmerzhafte Zustände beeinflussen den Grundtonus der Muskulatur oder führen zu Vermeidungsverhalten. Das Schmerz- oder das nozizeptive System beeinflusst wiederum das motorische System. Das sensorische und motorische System ihrerseits beeinflussen die Atmungs- und Herzkreislauffunktionen. Im Gedächtnis gespeicherte Erfahrungen ihrerseits beeinflussen in speziellen Situationen das Atmungssystem, die Schmerzverarbeitung, das Blutdruckverhalten und auch das physiko-chemo-immunologische innere Milieu.

Diese gegenseitigen Verknüpfungen sind vielfältig. Gymnastik, Bewegungspädagogik und Trainingstherapie bedienen sich oft der verschiedensten Systeme, um auf andere Systme Einfluss zu nehmen. In der Folge versuche ich, dem hierarchischen Aufbau des zentralen Nervensstems folgend, gewisse Funktionen gewissen Ebenen zuzuordnen. Da das Nervensystem jedoch nicht nur hierarchisch funktioniert, sind an gewissen Funktionen mehrere Hirnebenen beteiligt.

 
Neutronenverbände
Es wäre falsch, den einzelnen Hirnregionen ausschließlich spezifische Funktionen zuzuteilen. Das ZNS erbringt seine Leistung auch als Ganzes. Dennoch können einzelne Hauptfunktionen einzelnen Hirnregionen zugeordnet werden. Stellen wir uns das Gehirn als Netzwerk von grösseren und kleineren Neutronenverbänden vor, so erbringt die Integration von immer neuen Kombinationen solcher Verbände andere Funktionen hervor. So ist ein Neutronenverband an vielen Funktionen beteiligt. Die enormen Leistungen des ZNS basieren nur zum Teil auf ihrer enorm grossen Anzahl von etwa 100 Milliarden Neutronen. Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass diese Leistungen auf einer optimalen Verknüpfungsarchitektur zwischen den Neutronen basieren. So können einzelne Nervenzellen Verknüpfungen bis zu etwa 10.000 anderen Nervenzellen aufweisen.
Genetische Einflüsse

Es scheint, dass durch genetische Einflüsse und optimale Lernstrategien nicht notwendig nervöse Verbindungen wieder gelöst werden. Dieser Abbau wird neural pruning, d.h., neuronale Bereinigung genannt. Aus der Vielfalt der Verbindungen werden die oft gebrauchten konsolidiert. W. Calvin nannte diesen Prozess carving - herausschnitzen. Ein Weniger an Verbindungen ist besser als ein unstrukturiertes Vielverknüpfungschaos.

Bezüglich der genetischen Grundlage der Hirnleistungen postuliert Charles Spearman in seinem Buch "The Abilities of Man; Their Nature and Their Measurement" bereits 1927 einen sogenannten genetischen Faktor G. G steht für General intelligence. Spearman, ein Psychometriker, stellte bei der Analyse von Testresultaten eine hohe positive Korrelation zwischen verschiedenen kognitiven Leistungen fest. Das heisst, Personen, die hohe sprachliche Leistungen erbrachten, erbrachten diese auch in anderen Bereichen. Seit der G-Faktor von ihm 1904 zum ersten Mal postuliert wurde, brach der Streit über die genetischen Ursache, z.B. der Intelligenz, nicht mehr ab. Neuere Ergebnisse aus der Genforschung scheinen die Bedeutung der genetischen Ursache von Hirnleistungen zu unterstützen. So z.B. bezüglich der Sprachfähigkeit des Menschen: Eine Mutation des Fox-P2-Gens soll vor etwa 160.000 Jahren die Sprachfähigkeit des Menschen ermöglicht haben (S.Pinker). Auch der Zahlensinn des Menschen muss auf einer genetischen Ursache beruhen (S.Dehaene).

 
Funktionen einzelner ZNS-Ebenen
Endhirn

Dem Endhirn werden vor allem kognitive und psychische sowie sensorische und motorische Funktionen zugeschrieben. Insbesondere findet im Grosshirn auch die Verarbeitung der Afferenzen aus den Sinnesorgannen statt. Diese dienen als Grundlage für die Motorik, für die Regulationsvorgänge der verschiedensten Körperfunktionen sowie der bewussten Wahrnehmung und vor allem auch der unbewussten Wahrnehmung. Vor allem die immer einem Wechsel unterworfenen Gedächtnisleistungen werden im Endhirn erbracht. Fühlen, Denken, Handeln, schlussendlich ein mensch zu sein, das sind die Leistungen des Endhirn.

Diese gewaltigen Leistungen erbringt vor allem die sogenannte Grosshirnrinde, der Kortex. Im Kortex liegen die Nervenzellen, die eher eine graue Farbe haben. Deshalb nennt man diese zellkörperhaltigen Gebiete auch die grauen Hirnsubstanzen. Im Gegensatz zur weissen Hirnsubstanz, die vorwiegend aus den Nervenzellfortsätzen besteht. Die Faltung der Hirnoberfläche vergrössert diese Fläche und ist eine der Grundlagen für die Leistungskapazität des menschlichen Hirns.

Nervenzell-Ansammlungen in der Tiefe des Gehirns werden Ganglien oder Kerne genannt. Die Basalganglien sind in die Extremitäten- und Augenmotorik involviert. Sie leisten Beiträge zur Tonusregulation, verarbeiten sensorische Informationen und beeinflussen das Verhalten bezüglich Emotionalität und Motivation.

Speziell soll auf das tiefer liegende limbische System hingewiesen werden, dem die Produktion von psychischen Reaktionen und Wahrnehmungen zugesprochen wird. Hier werden auch Beiträge an die enorme Gedächtnisleistung des Menschen erbracht.

Das limbische System ist ein die Hirnebenen übergreifendes Funktionssystem, das vom Endhirn bis zum Mittelhirn reicht.

Abb.1: Ansicht des Gehirns von unten: Kleinhirn, Hirnstamm, Hirnnerven und Grosshirn
Zwischenhirn
Dem Zwischenhirn kommt eine grosse Bedeutung in der Reguliereung der Körperzustände zu. So zum Beispiel:
- Bewegungssteuerung
- Thermoregulation
- Nahrungsaufnahme
- Flüssigkeitshaushalt
- Schlaf - Wach - Rhythmus

Das Zwischenhirn hat eine Verbindung zur Hypophyse, einem übergeordneten hormonellen Steuerungsorgan, das über seine Einflüsse viele Hormondrüsen beeinflusst (innere Sekretion). Bereits hier sei darauf hingewiesen, dass viele Hormone der endokrinen Drüsen auch Botenstoffe des Nervensystems sind. Aus diesen Zusammenhängen wird klar, dass die Drüsenfunktionen die Funktionen des Nervensystems beeinflussen. Ebenso beeinflusst das Nervensystem die Drüsenfunktionen. So können in Stresssituationen durch die Ausschüttung von Stresshormonen Denkprozesse und motorische sowie sensorische Funktionen gestört oder beeinflusst werden.

Im Thalamus, einem Kerngebiet des Zwischenhirns, werden alle sensorischen Eingangsinformationen umgeschaltet, verarbeitet und erst dann weitergeleitet. A.R. Damasio vermutet, dass das Gehirn Strukturen nutzt, die dem Abbilden sowohl des eigenen Körpers wie der Aussenwelt dienen, um eine neue Abbildung zweiter Ordnung zu erstellen. Diese zeigt dann an, dass der Organismus, so wie es im Gehirn repräsentiert ist, sich in Interaktion mit einem Objekt befindet, das ebenfalls im Gehirn abgebildet ist. Die Abbildung zweiter Ordnung ist keine Abstraktion; sie findet in neutralen Strukturen wie Thalamus und Cingulum statt ("Wie das Gehirn Geist erzeugt. Rätselgehirn." Spektrum der Wissenschadt - Digest 2002). Zudem leistet der Thalamus Beiträge zur Aufmerksamkeitssteigerung, vor allem wenn die aus dem Hirnstamm kommende Aktivierung zu schwach ist, wie etwa bei Schlafmangel.

 
Abb.2 : Limbisches System
Mittelhirn
Das Mittelhirn hat seine Bedeutung in der Steuerung der Augenmotorik und leistet wichtige Beiträge zur Bewegungssteuerung. Zudem spielt es eine grosse Rolle in der Gleichgewichtsregulierung, vor allem in Zusammenarbeit mit dem Kleinhirn. Eine Störung von Mittelhirnkernen liegt beim Morbus Parkinson vor.
Brücke
Die Brücke bildet eine wichtige Verbindung zum Kleinhirn. Sie liefert Beiträge zur Motorik. Es gibt Hinweise, dass die Brücke auch den REM-Schlaf beeinflusst.
Kleinhirn
Das Kleinhirn leistet wichtige Beiträge beim motorischen Lernen und zur Harmonisierung von komplexen Bewegungen. Insbesondere ist seine Verbindung zum Gleichgewichtsorgan ausserordentlich wichtig. Das Kleinhirn scheint irgendwie ein zeitlicher Koordinator zu sein. Ein Beitrag des Kleinhirns zu den kognitiven Leistungen wird angenommen. Möglicherweise leistet das Kleinhirn einen Beitrag zum prozeduralen Gedächtnis, das heisst zur Erinnerung von gezielten Bewegungsabläufen, also zu den Handlungen. Eine wichtige motorische Schlaufe geht über das Kleinhirn, vor allem bei von aussen kommender Taktung (Musik, Rhythmus).
 
Verlängertes Rückenmark
Die Medulla oblongata ist unter anderem mit der Atmungssteuerung und der Blutdruckregulation verbunden. Eine Aktivierung der Medulla oblongata führt zu einer generellen Wachheitssteigerung über aufsteigende Fasern bis in die Grosshirnrinde (ARAS: aufsteigendes retikuläres aktivierendes System). Die afferenten Informationen aus dem Bewegungssystem aktivieren das ARAS. Auch reflektorische und autonome tonussteigernde Beiträge, vor allem gegen die Gravitation, leistet das verlängerte Mark.
Hirnstamm
Mittelhirn, Brücke und verlängertes Rückenmark bilden den Hirnstamm. Hier treten die Hirnnerven aus, die vor allem der Motorik und Sensorik der Kopf- und Halsregion dienen. Viele Leistungen erbringt der Hirnstamm als ganzer. Die einzelnen Ebenen arbeiten auch hier systemisch oder funktionell zusammen.
Rückenmark

Das Rückenmark ist die Ein- und Ausstrittsstelle der peripheren Nerven, also auch der peripheren Anteile des vegetativen Nervensystems. Im Rückenmark finden bereits erste sensorische Verarbeitungsprozesse und einfache Verarbeitungsprozesse statt. Verarbeitungsprozesse über wenige Nervenfaserverbindungen im Rückenmark, die zu stereotypen Antworten führen, nennen wir Reflexe.

Absteigende Bahnen (Nervenfaserbündel) vom Gehirn beeinflussen die Umschaltung von Impulsen aus den afferenten Nervenfasern (Sensorik) auf die aufsteigenden Bahnen. Diese Beeinflussung ist oft hemmend (Gate Control).

Im Vorderhorn der grauen Rückenmarksubstanz liegen die A-Alpha-Motoneuronen, die mit ihren efferenten Axonen die quergestreifte Skelettmuskulatur versorgen. Hier liegen auch die A-Gamma-Motoneuronen, die die Muskulatur der Muskelspindeln innervieren.Das Vorderhorn ist Austrittspforte, das Hinterhorn Eintrittspforte der Nervenwurzeln der Spinalnerven.

Einfache rhythmische Bewegungsmuster werden durch Nervenverbindung im Rückenmark generiert (z.B. Lokomotionsgenerator, Zittergenerator). Solche Bewegungsgeneratoren, die meistens eine rhythmische Aktivität erzeugen, werden auch Central Pattern Generators (CPG) genannt.

 
Abb.3 : Basalganglien und ihre Verbindungen
Funktionssysteme

Nochmals sei eindrücklich darauf hingewiesen, dass sich die verschiedenen Leistungen des ZNS verschiedener ZNS-Ebenen oder -strukturen bedienen. Bei den geschilderten Strukturen und deren Leistungen handelt es sich immer nur um Beiträge an komplexere Leistungen. So sind z.B. an der Willkürmotorik alle ZNS-Ebenen beteiligt.

Als Hinweis, wie vielfältig die Hirnfunktionen eingeteilt werden, mag ein Überblick über die Strukturen von 4 Lehrbüchern dienen.

---Funktionelle Neuroanatomie von Zilles und Rehkämper ( Springer - Verlag )
---Neuro- und Sinnesphysiologie von Schmidt und Schaible ( Springer - Verlag )
---Neurowissenschaften von Kandel, Schwartz und Jessell ( Spektrum Akademischer verlag )
---"Fühlen, Denken, Handeln" von Gerhard Roth (Substanz)
Ausblick

Für den Moment soll dieser Überblick über die ZNS-Ebenen und ihre funktionellen Beiträge genügen. Demnächst werde ich versuchen, einige Grundlagen der Rezeptorphysiologie zu vermitteln: Was zeichnet Reize und ihre Rezeptoren aus? Was ist wichtig für die Bewegungslehrerin, wenn sie richtig reizen will? Erst wenn wir die Grundlage der Funktionsweise des Nervensystems verstehen, werden wir die Komplexität der höheren Leistungen wie Handeln, Denken, Fühlen, Sprechen, Selbsterkennen usw. erahnen können. Auch wenn wir das Ziel des abschliessenden Verstehens zusammen nicht erreichen werden, ist die Reise in diese Richtung spannend genug. Unbemerkt beeinflusst jedes Teilverständnis unser Handeln und macht uns vielleicht auch etwas bescheidener.

Bruno Baviera

Abbildungen: W.Firbas; H.Gruber; R.Mayr:"Neuroanatomie"-Verlag Wilhelm Maudrich. Wien, München, Bern (1995)