von Dr. med. Bruno Baviera, Chefarzt,
ärztlicher Leiter der Schule für Physiotherapie Aargau, Schinznach
Vielfalt der Aufgaben des Nervensystems UND seine
Verletzungsfolgen
Teil 1:
Einleitung
Das zentrale und das periphere
Nervensystem sind ein unvorstellbar komplexes Informationsverarbeitungssystem.
Die Funktionsweise dieses Organs ist erst in Bruch-stücken erforscht und
erklärbar. Durch Verletzungen ausgefallenes Gewebe kann seine Funktion nicht
mehr wahrnehmen. Diese Tatsache ist leicht einsehbar. Dass jedoch durch irgendwelche
andere Störungen der Zugang zu gewissen Funktionen gestört sein kann,
ist schwieriger zu verstehen.
Bis eine zentralnervöse Nervenzelle ihrerseits ein Signal abgibt, muss sie von einer Vielzahl von anderen Nervenzellen erregt werden. Im Nervensystem existieren aber nicht nur fördernde, sondern auch hemmende Einflüsse auf die Zellen. Zudem beein-flussen viele chemische Stoffe, so genannte Neuromodulatoren, die Empfindlichkeit von Neuronen, d.h. Nervenzellen.
Ein von der Norm abweichender Informationsfluss auf Nervenzellen kann ihre Funktionsweise stören, ohne dass eine Verletzung von Nervengewebe vorliegt.
Diese Belange machen es verständlich, dass sich auch Fachleute gelegentlich mit Fehlfunktionen des Gehirns schwer tun, wenn sie deren Ursache eindeutig erklären müssen.
Der vorliegende Beitrag soll bruchstückhaft in einige Funktionsweisen des Nerven-systems einführen. Dazu sollen Verständnishilfen für eher einfache, aber auch komplexere Störungsarten aufgezeigt werden.
Teil 1 beschreibt die zentralnervösen Beiträge:
- zur Haltungssteuerung,
Haltungssteuerung
Eine
Leistung des Nervensystems ist, die Position der Körperteile, wie zum Beispiel
Kopf, Hals, Brust- und Bauchbereich sowie Arme und Beine, zu registrieren und
zu steuern.
Um die Stellung des Kopfes im Raum zu erfassen, erhält das zentrale Nervensystem Informationen aus den Gleichgewichtsorganen und den Augen. Diese Informationen werden bis tief in den Halsteil des Rückenmarks vermittelt. Im zervikalen Rückenmark (Halsrückenmark) wie in dem darüberliegenden Hirnstamm fliessen diese Informationen und Informationen aus der Halsregion (Propriozeptivität) zusammen und werden gemeinsam verrechnet.
Bei Störungen aus der Halswirbelsäulenregion fliessen veränderte Informationen in diesen Verarbeitungsprozess ein. Symptome wie Schwindel und z.B. Übelkeit werden so erklärbar und müssen nicht als psychische Fehlreaktionen interpretiert werden (Abb. 1.7.).
Körperschema
Eine
weitere komplexe Leistung des Gehirns ist die Wahrnehmung des eigenen Körpers,
oft Körperschema genannt. Diese Wahrnehmung ist unbewusst. Durch den Gebrauch
des Körpers im Alltag wird das Gehirn während des ganzen Lebens irgendwie
landkartenartig andauernd geprägt.
Hirnareale werden für bestimmte Körperabschnitte zuständig. Unsere Peripherie wird zentral repräsentiert. Werden Körperabschnitte nicht benutzt, so kann ihre kortikale Repräsentation verloren gehen. Auch starke Schmerzeinflüsse können zu einer Ver-änderung der kortikalen Repräsentation führen. Dauernd Informationen liefernde Körperteile werden sich so ungebührend grosse Areale auf Kosten von schweigsameren Regionen erobern.
Durch Nichtgebrauch freigewordene Areale werden von anderen Körperteilen besetzt. Eine Reintegration bedarf einer Rückeroberung der verloren gegangenen Hirnareale, z.B. durch eine sanft beginnende Berührungs- oder Bewegungstherapie.
Die alltägliche Auseinandersetzung von uns mit der Umwelt wird so zum struktu-rierenden Prinzip von uns selbst. Die Bewegungstherapie versucht hier, über viele sensorische Modalitäten, mit einer hoch zentralen Wirkung anzusetzen.
Bewegungs-handlungssteuerung
Die Steuerung der zielorientierten Bewegung, der
Handlung, ist ein komplexer, bis heute ebenfalls nicht endgültig geklärter
Prozess. Ohne ein inneres Bild des eigenen Körpers und der Umwelt ist keine
Handlung möglich. Diese Bilder entstehen im Gehirn durch eine andauernde
Auseinandersetzung mit dieser Umwelt. Über das Auge, das Gehör, das
Gleichgewichtsorgan, über die Bewegungs- und Spannungsmelder (Mechanorezeptoren)
in unserem Bewegungsapparat erhält das zentrale Nervensystem einen dauernden
Informationsfluss über unseren Körper und unsere Umgebung. Diese Impulse,
die Sensorik, dienen der zentralnervösen Informationsverarbeitung. Davon
wird uns nur ein winzigster Bruchteil bewusst, die Sensibilität. So können
bereits veränderte zentralnervöse Informationseingänge aus einer
gestörten Peripherie zu einer sekundär gestörten Bewegungs- oder
Handlungssteuerung führen. Ein Teufelskreis ist die Folge: Periphere Störungen
führen zu zentralen Störungen, die wiederum zu peripheren Störungen
führen. Bewegungstherapeutische Massnahmen versuchen, über eine Normalisierung
des Informationsflusses, diesem Prozess entgegenzuwirken.
KOGNITIVE
UND PSYCHISCHE LEISTUNGEN
In den letzten Jahren hat die Betrachtungsweise
der neuropsychologischen Leistungen des Gehirns auch in den Klinikalltag Einzug
gehalten. Vor allem Patienten mit Gehirnverletzungen und Gehirnerkrankungen leiden
nicht nur an sensorischen und motorischen Problemen.
Modalitätsspezifische Erkennungsstörungen (Agnosien), Sprachstörungen (Aphasien), Raum- und Körperwahrnehmungsstörungen (Negtekte) sind Ausdruck der vielfältigen Leistungen unseres Gehirns, die als Folge von Verletzungen oder Erkrankungen darniederliegen können.
Aufmerksamkeit, Antrieb, Orientierung im Raum und in der Zeit, Erarbeiten von Be-griffen, geteilte Aufmerksamkeit, Abstrahieren und somit auch Denken usw. sind weitere hochkomplexe Leistungen unseres Gehirns. Vergessen, speichern, verknüpfen und erinnern von Informationen sind Grundlagen unserer kognitiven Fähigkeiten.
Die Verknüpfung dieser Informationen mit einer emotionalen Tönung oder Stimmung, wie Freude, Spannung, Wut, Angst oder auch Frust, ist eine Leistung des subkortikal liegenden limbischen Systems. Diese Stimmungen wiederum beeinflussen unsere Handlungen und unser Denken bezüglich einer weiterführenden Motivation oder einer eher zu vermeidenden Haltung.
Die Filterung des Informationsflusses auf unser zentrales Nervensystem ist eine weitere lebensnotwendige Leistung. Die Aufgabe unseres Gehirns besteht ja auch darin, uns ein Bild dieser Welt und von uns selbst zu generieren, das im Innern zusammenhält. In dieser Welt sollen wir uns bewegen können und all das tun, was uns als Menschen eben zusteht. Wenn wir davon ausgehen, dass pro Sekunde etwa eine Milliarde Informationseinheiten über die Haut, die Augen und das Ohr generiert werden und davon lediglich 100 Informationseinheiten (bit/sec) unserem Bewusstsein zugänglich werden, erkennen wir die Bedeutung dieser Filtersysteme. Diese Datenreduktion ist eine unabdingbare Notwendigkeit, unser Bewusstsein nicht zu überfordern und in einer unendlich komplexen Welt dennoch aproximativ funktionsfähig zu sein (Abb. 1.8.).
Schmerzverarbeitung
Ohne
Nervensystem ist höchstwahrscheinlich keine Schmerzwahrnehmung im Sinne einer
bewussten Schmerzempfindung möglich. Werden Strukturen des Bewegungs-systems
oder innerer Organe geschädigt, hat das meistens eine Reizung von Nozizeptoren,
d.h. Schmerzfühlern zur Folge. Es entstehen in peripheren Nervenzellen Nervenimpulse,
die zur Informationsvermittlung über das periphere Geschehen und zur Auslösung
oder Beeinflussung von Verarbeitungsprozessen im zentralen Nervensystem führen.
Schmerzreaktionen wie Muskelverspannungen, Druchblutungsstörungen in den Geweben oder Funktionsveränderungen innerer Organe sind eine mögliche Antwort auf das Schmerzgeschehen.
Schmerzbedingte Schonhaltungen, Muskelverspannungen oder Durchblutungsver-änderungen können ihrerseits wiederum Ursache von neuen sekundären Schmerz-phänomenen werden.
Eine mechanische und in der Folge darauf
entzündliche Irritation der Nervenfasern ist durch Narbenbildungen oder Verkürzung
der das Nervensystem umgebenden Gewebe möglich. Dehntechniken oder die Mobilisation
der neuromeningealen Strukturen können helfen, mechanische Nervengewebe-Irritationen
präventiv zu verhindern oder allenfalls bei Bestehen therapeutisch zu reduzieren.
Mobilisations-techniken dieser Art werden bereits den angehenden PhysiotherapeutInnen
in der Grundausbildung vermittelt.
Teil 2
Die
Anzahl der denkbaren Kombinationen von synaptischen Verbindungen im Gehirn ist
grösser als die Anzahl Atome im uns bekannten Universum.
Einleitung
Neben der Haltungssteuerung, der kortikalen
Repräsentation des eigenen Körpers, der Bewegungssteuerung und der psycho-kognitiven
Leistungen, beschäftigen uns in de Gymnastik zunehmend auch andere Aspekte
der Hirnleistungen.
Insbesondere im Schmerzgeschehen spielt das Nervensystem eine zentrale Rolle. Bei der Gymnastik versuchen wir, dem zentralen Nervensystem einen soweit wie möglich normalen Informationsfluss zu vermitteln.
Immer mehr werden GymnastiklehrerInnen
auch mit Menschen konfrontiert, die an einer direkten oder indirekten Verletzung
des Nervensystems leiden. Das zeigte auch das Interesse an den Schleudertrama-Kursen.
Dass das zentrale Nervensystem auch psychische Leistungen generiert und bei seinen
Störungen auch emotionale Leistungsveränderungen auftreten, muss auch
in der Gymnastik berücksichtigt werden.
Nervensystem
und Schmerzverarbeitung
Ohne Nervensystem ist
höchstwahrscheinlich keine Schmerzwahrnehmung im Sinne einer bewussten Schmerzempfindung
möglich. Werden Strukturen des Bewegungs-systems oder innerer Organe geschädigt,
hat das meistens eine Reizung von Nozizeptoren, d.h. Schmerzfühlern zur Folge.
Es entstehen in peripheren Nervenzellen Nervenimpulse, die zur Informationsvermittlung
über das periphere Geschehen und zur Auslösung oder Beeinflussung von
Verarbeitungsprozessen im zentralen Nervensystem führen.
Schmerzreaktionen wie Muskelverspannungen, Druchblutungsstörungen in den Geweben oder Funktionsveränderungen innerer Organe sind eine mögliche Antwort auf das Schmerzgeschehen.
Schmerzbedingte Schonhaltungen, Muskelverspannungen oder Durchblutungsver-änderungen können ihrerseits wiederum Ursache von neuen sekundären Schmerz-phänomenen werden.
Eine mechanische und in der Folge darauf entzündliche Irritation der Nervenfasern ist durch Narbenbildungen oder Verkürzung der das Nervensystem umgebenden Gewebe möglich. Dehntechniken oder die Mobilisation der neuromeningealen Strukturen können helfen, mechanische Nervengewebe-Irritationen präventiv zu verhindern oder allenfalls bei Bestehen therapeutisch zu reduzieren. Mobilisations-techniken dieser Art werden bereits den angehenden PhysiotherapeutInnen in der Grundausbildung vermittelt.
Veränderter Informationsfluss
Bestehen periphere Störungen, z.B. durch Verletzungsfolgen,
verändert sich unter anderem durch Schwellung das mechanische oder durch
Entzündungsfolgen das chemische Milieu im Gewebe. Die Rezeptoren werden erregt,
veränderte Nervenimpulsmuster beeinflussen den zentralnervösen Verarbeitungsprozess.
Wie beschrieben, können bewusst Schmerzen wahrgenommen werden. Auch andere
Hirnleistungen wie z.B. die Konzentrationsfähigkeit können beeinflusst
werden. Ein dauernd veränderter Informationsfluss ans zentrale Nervensystem
kann für dieses eine unzumutbare Zumutung bedeuten. Kopfschmerzen, Aufmerksamkeitsstörungen,
Missmut und Depressionen können eine Folge sein.
Weitere Antworten auf solche Prozesse können Schonhaltungen durch verspannte Muskeln sein. Wiederum wird so der Informationsfluss verändert. Dauert das längere Zeit an, werden Bewegungsmuster auf der Grundlage der inneren Bilder verändert. Nicht beanspruchte Gewebe verkürzen sich. Bewegungseinschränkungen können eine weitere Folge sein. Die sich daraus ergebende Konsequenz ist, dass die nach dem Unfall zur Schonung der Gewebe notwendige Ruhigstellung nicht unnötig lange verordnet werden darf. Eine schonende Bewegungstherapie ist frühzeitig indiziert.
Im Rahmen der Schmerztoleranz sollte so bald wie möglich und so normal wie möglich bewegt und mobilisiert werden. Bewegung ist zudem ein Aktivator von körper-eigenen Schmerzhemmsystemen.
Ein Halskragen kann zum Beispiel eine schmerzhafte Halsregion
schützen, darf aber nie zur Immobilisation führen. Denn fallen die durch
die Bewegung aktivierten Schmerzhemmsysteme aus, werden bestehende Schmerzen vermehrt
wahrgenommen, und das Gehirn beginnt, im übertragenen Sinn, sich auf die
Schmerzverarbeitung zu konzentrieren. Umbauprozesse im ganzen Nervensystem führen
zu den Schmerzprozess unterhaltenden Zuständen. So können Verbindungen
zwischen dem mechanosensitiven und dem nozizeptiven System entstehen. Normale
Berührungsreize führen zu schmerzhaften Wahrnehmungen, zur Allodynie.
Direkte und indirekte Verletzung des Nervensystems
Dass
bei einem Schleudertrauma-Mechanismus Gewebe der Halswirbelsäule geschädigt
werden, wurde selten angezweifelt. Dass bei einem Kopfanprall das Gehirn verletzt
werden kann, ebenfalls nicht. Im Falle eines Kopfanpralls ist eine direkte Hirnverletzung
möglich. Wird der Kopf angeschlagen und dadurch die Halswirbelsäule
abgeknickt, spricht man von einem Abknickmechanismus. Vom Contact-Injury spricht
man, wenn der Kopf angeschlagen wurde. Non Contact bedeutet: Der Kopf wurde nicht
angeschlagen.
Zu Diskussionen Anlass gibt immer wieder die Tatsache, dass eine Schleuderbe-wegung des Kopfes ohne Kopfanprall zu einer Hirnverletzung führen kann. In diesem Sinn wäre die Hirnverletzung indirekt. Persönlich finde ich den Begriff "indirekt" unglücklich, da das Gehirn, z.B. durch den Aufprall an der Innenseite des Schädel-knochens, direkt geschädigt wird. 1993 deklarierte eine interdisziplinäre Experten-gruppe des amerikanischen Kongresses der Rehabilitationsmedizin (Mild Traumatic Brain Injury Subcommittee of the Head Injury Interdisciplinary Special Interest Group of the American Congress of Rehabilitation Medicine) die Beschleunigungsverletzung des Gehirns ohne Kopfanprall ausdrücklich als Ursache von milden traumatischen Hirnverletzungen.
Neben den bereits geschilderten Informationsverarbeitungsfolgen (funktionelle Ursache) entstehen nun Symptome als Folge einer verletzungsbedingten Hirn-schädigung. Eine grosse Anzahl von definierten Störungen, wie z.B. Nervenfasern-abrisse und Nervenzellfunktionsstörungen, wurden beschrieben. Einige dieser Ver-letzungsfolgen sind durch eine veränderte Haftung von radioaktiv markierten Substanzen an den Hirnzellen entdeckbar. Die Single Photon Emission Computed Tomography erlaubt heute, solche Funktionsstörungen sichtbar zu machen. Bei den nuklearmedizinischen Abteilungen grosser Spitäler werden diese modernen Unter-suchungen durchgeführt.
Störungen im visuellen, akustischen und vestibulären Bereich werden als Folge von so genannten Schleudertrauma-Unfällen in der internationalen Literatur immer häufiger erwähnt und beschrieben. Oft finden sich unsystematische, allgemeine Symptome wie Schwindel, Verschwommensehen, Antriebslosigkeit, Lichtempfindlichkeit, Müdigkeit und Konzentrationsstörungen als Folge einer Schädigung oder Funktionsstörung solcher Bereiche.
Nur eine sorgfältige, fachkundige Untersuchung deckt die oft von den Betroffenen nicht wahrgenommenen Symptome auf und liefert eine Erklärung für die veränderte Verhaltensweise. Gymnastik hat bei den Betroffenen äusserst vorsichtig stattzufinden.
Auch Fieber hat viele Ursachen,
so wie andere unsystematische oder unspezifische Allgemeinsymptome. Unaufmerksamkeit
und Antriebslosigkeit können Ausdruck von nicht wollen sein, aber auch Ausdruck
von nicht können, als Folge einer Störung.
Psychische Symptome
Dass
das zentrale Nervensystem als Ort der psychischen Leistungen bei Schädi-gungen
auch direkt psychische Störungen hervorbringen kann, ist unbestritten. Todesängste
während des Unfallgeschehens, Unverständnis gegenüber den empfundenen
Symptomen, nicht nur durch Fachpersonen, sondern auch durch engste Lebenspartner,
sind weitere Ursachen, die psychische Leistungsdefizite hervorrufen können.
Eine allgemeine Leistungseinbusse durch die Verletzungsfolgen unterminiert weiterhin das Selbstwertgefühl. Jahrelange Schmerzzustände und Versicherungs-streitigkeiten können zu einer gesellschaftlichen Rückzugsstrategie mit Verein-samung führen. Thomas Kay spricht vom Shaken Sense of Self, vom erschütterten Selbstbewusstsein.
Die meines
Erachtens nicht als pathologisch einzustufende Verhaltensveränderung mit
neuropsychologischen Leistungsdefiziten als emotionale Folge eines Unfalls, wird
als posttraumatische Stresskrankheit bezeichnet. Überforderung, zentralnervös
dämpfende Medikamente, Müdigkeit, andauernde Schmerzustände und
Angstzustände sind Ursachen von Hirnleistungsstörungen, ohne dass das
Gehirn organisch geschädigt sein muss.
Komplexes
Nervensystem
Das menschliche Nervensystem besteht
aus etwa hundert Milliarden Nervenzellen. Diese sind über eine Million Milliarden
Synapsen miteinander verbunden. Zusätzlich werden die Hirnfunktionen von
tausend Milliarden Gliazellen und anderen Hilfszellen unterstützt. Alle Nervenfasern
aneinander gereiht, entsteht ein Faden von etwa einer Million Kilometern Länge
(E. Kandel, J. Schwartz, T. Jessell).
Der Input erfolgt über etwa hundert Millionen Sehzellen, zehn Millionen Geschmackszellen, zehn Millionen Geruchszellen, vier Millionen Druck-, Thermo- und Nozizeptoren sowie etwa dreissigtausend Hörzellen (W. Wieser).
Die theoretisch möglichen Aktivitätszustände zwischen den einzelnen Nervenzellen über ihre Nervenfasern ist grösser als die geschätzte Anzahl der Atome im Weltall!
Ein Hirnforscher drückte sein Erstaunen über die anatomische Vielzahl der Hirn-zellen so aus: Von den etwa 1011 Hirnzellen befinden sich deren 1012 im Kleinhirn!
Wenn wir auch noch so spektakuläre Bild gebende Verfahren wie die SPECT-oder PET-Untersuchungen anwenden, die subtilen Funktionszustände des Nervensystems, aber auch irgendeiner andern Körperzelle, sind damit nicht fassbar.
Das Röntgenbild einer Batterie gibt allenfalls Hinweis auf ihren Grobaufbau, es sagt jedoch nichts über ihren Lade- oder Spannungszustand aus. Ein Marder mag die Isolationsschicht eines Autokabels als Leckerbissen einstufen, aber niemals als wesentlichen Funktionsteil unseres Transportmittels.
Dennoch besteht Hoffnung,
dass eine patientenorientierte intelligente Forschung hilft, weitere Symptome
zu erklären. So werden die betroffenen Patienten von der zusätzlichen
Last befreit, ihre von den Fachpersonen nicht verstandenen Symptome beweisen zu
müssen. Wenn Fachleute etwas nicht verstehen, heisst das nicht, dass dieses
Etwas nicht existiert.
Croft schreibt: "Die Wissenschaftler waren zuerst
erstaunt, wie viele Weichteilläsionen sie bei den Versuchstieren fanden.
Aber diese experimental erzeugten Schäden fanden sich auch bei menschlichen
Unfallopfern. Die Interpretation dieser Resultate brauchte viel Zeit, um die Konstellation
der unerwarteten und oft bizzarren Symptome bei Schleudertrauma-Patienten zu erklären"
(In: Formeman, Croft. Whiplash Injury 1995).
Bedeutung
der Gymnastik
Das Verstehen der vielfältigen
Leistungen des Nervensystems und seiner Verletzungsfolgen ist eine wichtige Basis
für die gymnastische Tätigkeit. Diese zwei Einführungsartikel (GymNess
3 + 4/2000) sollen Anstoss sein, sich weiterhin mit dieser Thematik zu beschäftigen.
Wie ein roter Faden soll diese Thematik auch durch die Fortbildung führen.
Je mehr wir auf der neurophysiologischen Basis unsere Gymnastik planen und durchführen,
um so wirkungsvoller und verständlicher wird das gymnastische Tun. Sehen
sie dazu auch das Fortbildungsprogramm der VdG und die diversen Beiträge
im schon länger angekündigten Buch des Autors. "Bewegen durch Bewegung"
(Erscheinungsdatum: Hoffentlich vor den Sommerferien 2001).