Teil
2:
von Dr. med. Bruno Baviera, Chefarzt, ärztlicher Leiter der Schule für Physiotherapie Aargau, Schinznach
1.3.1. Einleitung
Neben der Haltungssteuerung, der kortikalen Repräsentation des eigenen
Körpers, der Bewegungssteuerung und der psycho-kognitiven Leistungen,
beschäftigen uns in de Gymnastik zunehmend auch andere Aspekte der
Hirnleistungen.
Insbesondere im Schmerzgeschehen spielt das Nervensystem eine zentrale
Rolle. Bei der Gymnastik versuchen wir, dem zentralen Nervensystem einen soweit
wie möglich normalen Informationsfluss zu vermitteln.
Immer mehr werden GymnastiklehrerInnen auch mit Menschen konfrontiert,
die an einer direkten oder indirekten Verletzung des Nervensystems leiden. Das
zeigte auch das Interesse an den Schleudertrama-Kursen. Dass das zentrale
Nervensystem auch psychische Leistungen generiert und bei seinen Störungen auch
emotionale Leistungsveränderungen auftreten, muss auch in der Gymnastik berücksichtigt werden.
Nervensystem und Schmerzverarbeitung
Ohne Nervensystem ist höchstwahrscheinlich keine Schmerzwahrnehmung im
Sinne einer bewussten Schmerzempfindung möglich. Werden Strukturen des
Bewegungs-systems oder innerer Organe geschädigt, hat das meistens eine Reizung
von Nozizeptoren, d.h. Schmerzfühlern zur Folge. Es entstehen in peripheren
Nervenzellen Nervenimpulse, die zur Informationsvermittlung über das periphere
Geschehen und zur Auslösung oder Beeinflussung von Verarbeitungsprozessen im
zentralen Nervensystem führen.
Schmerzreaktionen wie Muskelverspannungen, Druchblutungsstörungen in
den Geweben oder Funktionsveränderungen innerer Organe sind eine mögliche
Antwort auf das Schmerzgeschehen.
Schmerzbedingte Schonhaltungen, Muskelverspannungen oder
Durchblutungsver-änderungen können ihrerseits wiederum Ursache von neuen
sekundären Schmerz-phänomenen werden.
Eine mechanische und in der Folge darauf entzündliche Irritation der
Nervenfasern ist durch Narbenbildungen oder Verkürzung der das Nervensystem
umgebenden Gewebe möglich. Dehntechniken oder die Mobilisation der
neuromeningealen Strukturen können helfen, mechanische
Nervengewebe-Irritationen präventiv zu verhindern oder allenfalls bei Bestehen
therapeutisch zu reduzieren. Mobilisations-techniken dieser Art werden bereits
den angehenden PhysiotherapeutInnen in der Grundausbildung vermittelt.
Veränderter Informationsfluss
Bestehen periphere Störungen, z.B. durch Verletzungsfolgen, verändert
sich unter anderem durch Schwellung das mechanische oder durch
Entzündungsfolgen das chemische Milieu im Gewebe. Die Rezeptoren werden erregt,
veränderte Nervenimpulsmuster beeinflussen den zentralnervösen
Verarbeitungsprozess. Wie beschrieben, können bewusst Schmerzen wahrgenommen
werden. Auch andere Hirnleistungen wie z.B. die Konzentrationsfähigkeit können
beeinflusst werden. Ein dauernd veränderter Informationsfluss ans zentrale
Nervensystem kann für dieses eine unzumutbare Zumutung bedeuten. Kopfschmerzen,
Aufmerksamkeitsstörungen, Missmut und Depressionen können eine Folge sein.
Weitere Antworten auf solche Prozesse können Schonhaltungen durch
verspannte Muskeln sein. Wiederum wird so der Informationsfluss verändert.
Dauert das längere Zeit an, werden Bewegungsmuster auf der Grundlage der
inneren Bilder verändert. Nicht beanspruchte Gewebe verkürzen sich.
Bewegungseinschränkungen können eine weitere Folge sein. Die sich daraus
ergebende Konsequenz ist, dass die nach dem Unfall zur Schonung der Gewebe
notwendige Ruhigstellung nicht unnötig lange verordnet werden darf. Eine
schonende Bewegungstherapie ist frühzeitig indiziert.
Im Rahmen der Schmerztoleranz sollte so bald wie möglich und so normal
wie möglich bewegt und mobilisiert werden. Bewegung ist zudem ein Aktivator von
körper-eigenen Schmerzhemmsystemen.
Ein Halskragen kann zum Beispiel eine schmerzhafte Halsregion schützen,
darf aber nie zur Immobilisation führen. Denn fallen die durch die Bewegung
aktivierten Schmerzhemmsysteme aus, werden bestehende Schmerzen vermehrt
wahrgenommen, und das Gehirn beginnt, im übertragenen Sinn, sich auf die
Schmerzverarbeitung zu konzentrieren. Umbauprozesse im ganzen Nervensystem
führen zu den Schmerzprozess unterhaltenden Zuständen. So können Verbindungen
zwischen dem mechanosensitiven und dem nozizeptiven System entstehen. Normale
Berührungsreize führen zu schmerzhaften Wahrnehmungen, zur Allodynie.
Direkte und indirekte
Verletzung des Nervensystems
Dass bei einem Schleudertrauma-Mechanismus Gewebe der Halswirbelsäule geschädigt
werden, wurde selten angezweifelt. Dass bei einem Kopfanprall das Gehirn
verletzt werden kann, ebenfalls nicht. Im Falle eines Kopfanpralls ist eine
direkte Hirnverletzung möglich. Wird der Kopf angeschlagen und dadurch die
Halswirbelsäule abgeknickt, spricht man von einem Abknickmechanismus. Vom
Contact-Injury spricht man, wenn der Kopf angeschlagen wurde. Non Contact
bedeutet: Der Kopf wurde nicht angeschlagen.
Zu Diskussionen Anlass gibt immer wieder die Tatsache, dass eine
Schleuderbe-wegung des Kopfes ohne Kopfanprall zu einer Hirnverletzung führen
kann. In diesem Sinn wäre die Hirnverletzung indirekt. Persönlich finde ich den
Begriff „indirekt“ unglücklich, da das Gehirn, z.B. durch den Aufprall an der
Innenseite des Schädel-knochens, direkt geschädigt wird. 1993 deklarierte eine
interdisziplinäre Experten-gruppe des amerikanischen Kongresses der
Rehabilitationsmedizin (Mild Traumatic Brain Injury Subcommittee of the Head
Injury Interdisciplinary Special Interest Group of the American Congress of
Rehabilitation Medicine) die Beschleunigungsverletzung des Gehirns ohne
Kopfanprall ausdrücklich als Ursache von milden traumatischen Hirnverletzungen.
Neben den bereits geschilderten Informationsverarbeitungsfolgen
(funktionelle Ursache) entstehen nun Symptome als Folge einer
verletzungsbedingten Hirn-schädigung. Eine grosse Anzahl von definierten
Störungen, wie z.B. Nervenfasern-abrisse und Nervenzellfunktionsstörungen,
wurden beschrieben. Einige dieser Ver-letzungsfolgen sind durch eine veränderte
Haftung von radioaktiv markierten Substanzen an den Hirnzellen entdeckbar. Die
Single Photon Emission Computed Tomography erlaubt heute, solche
Funktionsstörungen sichtbar zu machen. Bei den nuklearmedizinischen Abteilungen
grosser Spitäler werden diese modernen Unter-suchungen durchgeführt.
Störungen im visuellen, akustischen und vestibulären Bereich werden als
Folge von so genannten Schleudertrauma-Unfällen in der internationalen
Literatur immer häufiger erwähnt und beschrieben. Oft finden sich unsystematische,
allgemeine Symptome wie Schwindel, Verschwommensehen, Antriebslosigkeit,
Lichtempfindlichkeit, Müdigkeit und Konzentrationsstörungen als Folge einer
Schädigung oder Funktionsstörung solcher Bereiche.
Nur eine sorgfältige, fachkundige Untersuchung deckt die oft von den
Betroffenen nicht wahrgenommenen Symptome auf und liefert eine Erklärung für
die veränderte Verhaltensweise. Gymnastik hat bei den Betroffenen äusserst
vorsichtig stattzufinden.
Auch Fieber hat viele Ursachen, so wie andere unsystematische oder
unspezifische Allgemeinsymptome. Unaufmerksamkeit und Antriebslosigkeit können
Ausdruck von nicht wollen sein, aber auch Ausdruck von nicht können, als Folge
einer Störung.
Psychische Symptome
Dass das zentrale Nervensystem als Ort der psychischen Leistungen bei
Schädi-gungen auch direkt psychische Störungen hervorbringen kann, ist
unbestritten. Todesängste während des Unfallgeschehens, Unverständnis gegenüber
den empfundenen Symptomen, nicht nur durch Fachpersonen, sondern auch durch
engste Lebenspartner, sind weitere Ursachen, die psychische Leistungsdefizite
hervorrufen können.
Eine allgemeine Leistungseinbusse durch die Verletzungsfolgen
unterminiert weiterhin das Selbstwertgefühl. Jahrelange Schmerzzustände und
Versicherungs-streitigkeiten können zu einer gesellschaftlichen
Rückzugsstrategie mit Verein-samung führen. Thomas Kay spricht vom Shaken Sense
of Self, vom erschütterten Selbstbewusstsein.
Die meines Erachtens nicht als pathologisch einzustufende
Verhaltensveränderung mit neuropsychologischen Leistungsdefiziten als
emotionale Folge eines Unfalls, wird als posttraumatische Stresskrankheit
bezeichnet. Überforderung, zentralnervös dämpfende Medikamente, Müdigkeit,
andauernde Schmerzustände und Angstzustände sind Ursachen von
Hirnleistungsstörungen, ohne dass das Gehirn organisch geschädigt sein muss.
Komplexes Nervensystem
Das menschliche Nervensystem besteht aus etwa hundert Milliarden
Nervenzellen. Diese sind über eine Million Milliarden Synapsen miteinander
verbunden. Zusätzlich werden die Hirnfunktionen von tausend Milliarden
Gliazellen und anderen Hilfszellen unterstützt. Alle Nervenfasern aneinander
gereiht, entsteht ein Faden von etwa einer Million Kilometern Länge (E. Kandel,
J. Schwartz, T. Jessell).
Der Input erfolgt über etwa hundert Millionen Sehzellen, zehn Millionen
Geschmackszellen, zehn Millionen Geruchszellen, vier Millionen Druck-, Thermo-
und Nozizeptoren sowie etwa dreissigtausend Hörzellen (W. Wieser).
Die theoretisch möglichen Aktivitätszustände zwischen den einzelnen
Nervenzellen über ihre Nervenfasern ist grösser als die geschätzte Anzahl der
Atome im Weltall!
Ein Hirnforscher drückte sein Erstaunen über die anatomische Vielzahl
der Hirn-zellen so aus: Von den etwa 1011 Hirnzellen befinden sich deren 1012 im
Kleinhirn!
Wenn wir auch noch so spektakuläre Bild gebende Verfahren wie die
SPECT-oder PET-Untersuchungen anwenden, die subtilen Funktionszustände des
Nervensystems, aber auch irgendeiner andern Körperzelle, sind damit nicht
fassbar.
Das Röntgenbild einer Batterie gibt allenfalls Hinweis auf ihren
Grobaufbau, es sagt jedoch nichts über ihren Lade- oder Spannungszustand aus.
Ein Marder mag die Isolationsschicht eines Autokabels als Leckerbissen einstufen,
aber niemals als wesentlichen Funktionsteil unseres Transportmittels.
Dennoch besteht Hoffnung, dass eine patientenorientierte intelligente Forschung hilft, weitere Symptome zu erklären. So werden die betroffenen Patienten von der zusätzlichen Last befreit, ihre von den Fachpersonen nicht verstandenen Symptome beweisen zu müssen. Wenn Fachleute etwas nicht verstehen, heisst das nicht, dass dieses Etwas nicht existiert.
A. Croft schreibt: "Die Wissenschaftler waren zuerst erstaunt, wie viele Weichteilläsionen sie bei den Versuchstieren fanden. Aber diese experimental erzeugten Schäden fanden sich auch bei menschlichen Unfallopfern. Die Interpretation dieser Resultate brauchte viel Zeit, um die Konstellation der unerwarteten und oft bizzarren Symptome bei Schleudertrauma-Patienten zu erklären" (In: Formeman, Croft. Whiplash Injury 1995).
Bedeutung der Gymnastik
Das Verstehen der vielfältigen Leistungen des Nervensystems und seiner Verletzungsfolgen ist eine wichtige Basis für die gymnastische Tätigkeit. Diese zwei Einführungsartikel (GymNess 3 + 4/2000) sollen Anstoss sein, sich weiterhin mit dieser Thematik zu beschäftigen. Wie ein roter Faden soll diese Thematik auch durch die Fortbildung führen. Je mehr wir auf der neurophysiologischen Basis unsere Gymnastik planen und durchführen, um so wirkungsvoller und verständlicher wird das gymnastische Tun. Sehen sie dazu auch das Fortbildungsprogramm der VdG und die diversen Beiträge im schon länger angekündigten Buch des Autors. „Bewegen durch Bewegung“ (Erscheinungsdatum: Hoffentlich vor den Sommerferien 2001).