Die Anzahl der denkbaren Kombinationen von

synaptischen Verbindungen im Gehirn ist

grösser als die Anzahl Atome im uns

bekannten Universum

 

 

von Dr. med. Bruno Baviera, Chefarzt, ärztlicher Leiter der Schule für Physiotherapie Aargau, Schinznach

 

 

1.3.             Vielfalt der Aufgaben des Nervensystems UND seine Verletzungsfolgen

Teil 1:

 

 

1.3.1.              Einleitung

 

Das zentrale und das periphere Nervensystem sind ein unvorstellbar komplexes Infor-mationsverarbeitungssystem. Die Funktionsweise dieses Organs ist erst in Bruch-stücken erforscht und erklärbar. Durch Verletzungen ausgefallenes Gewebe kann seine Funktion nicht mehr wahrnehmen. Diese Tatsache ist leicht einsehbar. Dass jedoch durch irgendwelche andere Störungen der Zugang zu gewissen Funktionen gestört sein kann, ist schwieriger zu verstehen.

 

Bis eine zentralnervöse Nervenzelle ihrerseits ein Signal abgibt, muss sie von einer Vielzahl von anderen Nervenzellen erregt werden. Im Nervensystem existieren aber nicht nur fördernde, sondern auch hemmende Einflüsse auf die Zellen. Zudem beein-flussen viele chemische Stoffe, so genannte Neuromodulatoren, die Empfindlichkeit von Neuronen, d.h. Nervenzellen.

 

Ein von der Norm abweichender Informationsfluss auf Nervenzellen kann ihre Funktionsweise stören, ohne dass eine Verletzung von Nervengewebe vorliegt.

 

Diese Belange machen es verständlich, dass sich auch Fachleute gelegentlich mit Fehlfunktionen des Gehirns schwer tun, wenn sie deren Ursache eindeutig erklären müssen.

 

Der vorliegende Beitrag soll bruchstückhaft in einige Funktionsweisen des Nerven-systems einführen. Dazu sollen Verständnishilfen für eher einfache, aber auch komplexere Störungsarten aufgezeigt werden.

 

Teil 1 beschreibt die zentralnervösen Beiträge:

-    zur Haltungssteuerung,

-         zum Körperschema,

-         zu den kognitiven und psychischen Leistungen, sowie

-         zur Schmerzverarbeitung

 

Teil 2 GymNess 04/2000 folgen Beiträge:

-         zum veränderten Informationsfluss,

-         zur Gehirnverletzung durch das so genannte Schleudertrauma, sowie

-         Psychische Symptome

 

Detaillierte Angaben zur weiterführender Literatur finden Sie im Buch: Bewegen durch Bewegung des Autors Dr. Bruno Baviera.

 

 

1.3.2.              Haltungssteuerung

 

Eine Leistung des Nervensystems ist, die Position der Körperteile, wie zum Beispiel Kopf, Hals, Brust- und Bauchbereich sowie Arme und Beine, zu registrieren und zu steuern.

 

Um die Stellung des Kopfes im Raum zu erfassen, erhält das zentrale Nervensystem Informationen aus den Gleichgewichtsorganen und den Augen. Diese Informationen werden bis tief in den Halsteil des Rückenmarks vermittelt. Im zervikalen Rückenmark (Halsrückenmark) wie in dem darüberliegenden Hirnstamm fliessen diese Informationen und Informationen aus der Halsregion (Propriozeptivität) zusammen und werden gemeinsam verrechnet.

 


Bei Störungen aus der Halswirbelsäulenregion fliessen veränderte Informationen in diesen Verarbeitungsprozess ein. Symptome wie Schwindel und z.B. Übelkeit werden so erklärbar und müssen nicht als psychische Fehlreaktionen interpretiert werden (Abb. 1.7.).

 

 

1.3.3.              Körperschema

 

Eine weitere komplexe Leistung des Gehirns ist die Wahrnehmung des eigenen Körpers, oft Körperschema genannt. Diese Wahrnehmung ist unbewusst. Durch den Gebrauch des Körpers im Alltag wird das Gehirn während des ganzen Lebens irgendwie landkartenartig andauernd geprägt.

 

Hirnareale werden für bestimmte Körperabschnitte zuständig. Unsere Peripherie wird zentral repräsentiert. Werden Körperabschnitte nicht benutzt, so kann ihre kortikale Repräsentation verloren gehen. Auch starke Schmerzeinflüsse können zu einer Ver-änderung der kortikalen Repräsentation führen. Dauernd Informationen liefernde Körperteile werden sich so ungebührend grosse Areale auf Kosten von schweigsameren Regionen erobern.

 

Durch Nichtgebrauch freigewordene Areale werden von anderen Körperteilen besetzt. Eine Reintegration bedarf einer Rückeroberung der verloren gegangenen Hirnareale, z.B. durch eine sanft beginnende Berührungs- oder Bewegungstherapie.

 

Die alltägliche Auseinandersetzung von uns mit der Umwelt wird so zum struktu-rierenden Prinzip von uns selbst. Die Bewegungstherapie versucht hier, über viele sensorische Modalitäten, mit einer hoch zentralen Wirkung anzusetzen.

 

 

1.3.4.              Bewegungs-handlungs-steuerung

 

Die Steuerung der zielorientierten Bewegung, der Handlung, ist ein komplexer, bis heute ebenfalls nicht endgültig geklärter Prozess. Ohne ein inneres Bild des eigenen Körpers und der Umwelt ist keine Handlung möglich. Diese Bilder entstehen im Gehirn durch eine andauernde Auseinandersetzung mit dieser Umwelt. Über das Auge, das Gehör, das Gleichgewichtsorgan, über die Bewegungs- und Spannungsmelder (Mechanorezeptoren) in unserem Bewegungsapparat erhält das zentrale Nervensystem einen dauernden Informationsfluss über unseren Körper und unsere Umgebung. Diese Impulse, die Sensorik, dienen der zentralnervösen Informationsverarbeitung. Davon wird uns nur ein winzigster Bruchteil bewusst, die Sensibilität. So können bereits veränderte zentralnervöse Informationseingänge aus einer gestörten Peripherie zu einer sekundär gestörten Bewegungs- oder Handlungssteuerung führen. Ein Teufelskreis ist die Folge: Periphere Störungen führen zu zentralen Störungen, die wiederum zu peripheren Störungen führen. Bewegungstherapeutische Massnahmen versuchen, über eine Normalisierung des Informationsflusses, diesem Prozess entgegenzuwirken.

 

 


1.3.5.              KOGNITIVE UND PSYCHISCHE LEISTUNGEN

 

In den letzten Jahren hat die Betrachtungsweise der neuropsychologischen Leistungen des Gehirns auch in den Klinikalltag Einzug gehalten. Vor allem Patienten mit Gehirnverletzungen und Gehirnerkrankungen leiden nicht nur an sensorischen und motorischen Problemen.

 

Modalitätsspezifische Erkennungsstörungen (Agnosien), Sprachstörungen (Aphasien), Raum- und Körperwahrnehmungsstörungen (Negtekte) sind Ausdruck der vielfältigen Leistungen unseres Gehirns, die als Folge von Verletzungen oder Erkrankungen darniederliegen können.

 

Aufmerksamkeit, Antrieb, Orientierung im Raum und in der Zeit, Erarbeiten von Be-griffen, geteilte Aufmerksamkeit, Abstrahieren und somit auch Denken usw. sind weitere hochkomplexe Leistungen unseres Gehirns. Vergessen, speichern, verknüpfen und erinnern von Informationen sind Grundlagen unserer kognitiven Fähigkeiten.

 

Die Verknüpfung dieser Informationen mit einer emotionalen Tönung oder Stimmung, wie Freude, Spannung, Wut, Angst oder auch Frust, ist eine Leistung des subkortikal liegenden limbischen Systems. Diese Stimmungen wiederum beeinflussen unsere Handlungen und unser Denken bezüglich einer weiterführenden Motivation oder einer eher zu vermeidenden Haltung.

 

Die Filterung des Informationsflusses auf unser zentrales Nervensystem ist eine weitere lebensnotwendige Leistung. Die Aufgabe unseres Gehirns besteht ja auch darin, uns ein Bild dieser Welt und von uns selbst zu generieren, das im Innern zusammenhält. In dieser Welt sollen wir uns bewegen können und all das tun, was uns als Menschen eben zusteht. Wenn wir davon ausgehen, dass pro Sekunde etwa eine Milliarde Informationseinheiten über die Haut, die Augen und das Ohr generiert werden und davon lediglich 100 Informationseinheiten (bit/sec) unserem Bewusstsein zugänglich werden, erkennen wir die Bedeutung dieser Filtersysteme. Diese Datenreduktion ist eine unabdingbare Notwendigkeit, unser Bewusstsein nicht zu überfordern und in einer unendlich komplexen Welt dennoch aproximativ funktionsfähig zu sein (Abb. 1.8.).

 

 

1.3.6.              Schmerzverarbeitung

 

Ohne Nervensystem ist höchstwahrscheinlich keine Schmerzwahrnehmung im Sinne einer bewussten Schmerzempfindung möglich. Werden Strukturen des Bewegungs-systems oder innerer Organe geschädigt, hat das meistens eine Reizung von Nozizeptoren, d.h. Schmerzfühlern zur Folge. Es entstehen in peripheren Nervenzellen Nervenimpulse, die zur Informationsvermittlung über das periphere Geschehen und zur Auslösung oder Beeinflussung von Verarbeitungsprozessen im zentralen Nervensystem führen.

 

Schmerzreaktionen wie Muskelverspannungen, Druchblutungsstörungen in den Geweben oder Funktionsveränderungen innerer Organe sind eine mögliche Antwort auf das Schmerzgeschehen.

 

Schmerzbedingte Schonhaltungen, Muskelverspannungen oder Durchblutungsver-änderungen können ihrerseits wiederum Ursache von neuen sekundären Schmerz-phänomenen werden.

 

Eine mechanische und in der Folge darauf entzündliche Irritation der Nervenfasern ist durch Narbenbildungen oder Verkürzung der das Nervensystem umgebenden Gewebe möglich. Dehntechniken oder die Mobilisation der neuromeningealen Strukturen können helfen, mechanische Nervengewebe-Irritationen präventiv zu verhindern oder allenfalls bei Bestehen therapeutisch zu reduzieren. Mobilisations-techniken dieser Art werden bereits den angehenden PhysiotherapeutInnen in der Grundausbildung vermittelt.