Eutonie nach Gerda Alexander
von Dr. phil. Peter Gilgen
"Das innere Leben, die Präsenz und die Schönheit, die auch die einfachste eutonische Bewegung ausstrahlt, sind unverwechselbar. Sie sind Ausdruck der zu Bewusstsein gekommenden körperlich-geistigen Einheit des Menschen. Eutonie ist ein westlicher Weg zur Erfahrung der körperlich-geistigen Einheit des Menschen. Nicht durch Versenkung, sondern durch Erweiterung des Bewusstseins werden schöpferische Kräfte entfaltet und zugleich die soziale Kontaktfähigkeit aktiviert - ein Entwicklungsweg, der die Qualität der Persönlichkeit freilegt und ihr die Anpassung an das Leben in der Gemeinschaft ohne Verlust ihrer Eigenart ermöglicht." .... Gerda Alexander
   
  Eutonie stammt aus dem Griechischen (eu: harmonisch, wohl; tonus:Spannung). Tonus bezeichnet auch das äußerst vielfältige Spannungsgefüge der gesamten Muskulatur und des Bindegwebes bis in die feinsten Gefässe. Der Tonus wird durch zahllose physische und psychische Faktoren fortwährend beeinflusst. Beim Hypertoniker ist der Spannungszustand generell zu hoch und überschiessend, beim Hypotoniker ist er zu niedrig und ausserdem schlaff. Auch eine rigide Tonus-Fixierung im Mittelbereich mit mangelnder Anpassungsfähigkeit und Reaktionsbandbreite sind bezeichnend für eine "Dystonie".
   
  Flexibler Tonus
  Die ganze menschliche Gefühlsskala von höchster Ekstase bis zu völliger Apathie wird durch einen flexiblen Tonus möglich, der nach extremen Herausforderungen wieder in die Mittellage zurückkehrt. Diese Mittellage ist individuell verschieden und natürlich auch unterschiedlich im Wach- und Schlafzustand. Ein entspannter Körper, zum Beispiel ein schlafendes Kind, ist schwieriger zu heben und zu bewegen als ein tonisierter, gespannter Körper. Tonusumstellungen sind subjektiv und in der eutonischen Behandlung spürbar durch Schwerer- oder Leichterwerden.
   
  Kleinkinder und Tiere sind übrigens besonders empfänglich für Tonusübertragungen, und ihre Kommunikation besteht vor allem auch in der Tonusimitation: Sie übernehmen leicht die Spannungslage anwesender Bezugspersonen. Gerade in diesem Alter können Tonusfixierungen durch traumatische oder andere Erlebnisse etabliert werden, die später zu psychischen oder psychosomatischen Problemen führen, und sie sind daher ein Indikationsgebiet der Eutonie.
   
  Gerda Alexander, die als Rhythmik- und Theaterpädagogin jahrzentelang mit Kindern und Erwachsenen, Gesunden, Kranken und Behinderten gearbeitet und diese "Klientel" genau in ihrem Bewegungsausdruck beobachtet hatte, prägte 1957 den Begriff Eutonie für ihre Methode der Selbstfindung über den Körper. Ziel der von Gerda Alexander entwickelten Schulung ist nicht einfach Entspannung, sondern eine Wohlspannung und Flexibilität, eine bewusste Anpassungs- und Gestaltungsfähigkeit unseres körperlich-geistigen Spannungszustands in Alltags- oder auch aussergewöhnlichen Situationen.
   
  Über eine vertiefte Aufmerksamkeit und Sensibilisierung für die eigenen, meist unwillkürlichen und unbewussten Körperspannungen an der Oberfläche wie in der Tiefe gelingt es, Ungleichgewichte und Verspannungen bewusst zu machen und schliesslich den Tonus und die vegetativen wie auch die motorischen Spannungszustände willkürlich und bewusst zu regulieren, um letztlich zu einer Eutonie der Gesamtpersönlichkeit zu gelangen.
Vertiefte Aufmerksamkeit und Präsenz
   
 

Zunächst geht es aber um die Schulung einer neuralen, angst- und erwartungslosen, nicht eingreifenden oder beeinflussenden Aufmerksamkeit für Spannungs(un)gleichgewichte und den eigenen Körperraum in Ruhe und Bewegung und schließlich auch für den Kontakt und Austausch über den eigenen Körper hinaus in den Raum oder zu anderen Menschen. Dies führt zur Entfaltung eines Bewusstseinszustands, der in der Eutonie als "Präsenz" bezeichnet wird.

Seinen eigenen Tonus wahrzunehmen und zu regulieren, die Spannungszustände anderer Menschen zu erspüren, sich bewusst anzupassen, ohne sich darin zu verlieren oder gezielt zu beinflussen, gehört also zu den Fähigkeiten, die im Laufe der Eutonie-Schulung im Einzel-, meist aber im Gruppenunterricht entwickelt werden können. Zu lernen, in Stresssituationen nicht "den Kopf zu verlieren" (weil eine vegetative Spannung die Muskeln verkrampft und die Durchblutung des Gehirns drosselt) oder mit seinem Körper absolut ökonomisch und effektiv umzugehen, Schmerzen loszulassen, sofort von "null auf hundert" starten zu können, einen intensiven Kontakt zu sich, seinem Körper, seinem Empfinden. Wahrnehmen und Denken und ebenso zu seiner Umwelt zu gewinnen, mögen zentrale Effekte der Eutonie sein - neben den mehr medizinischen Indikationen wie psychosomatische oder neurologische Leiden, Nachbehandlungen von Querschnittslähmungen, Poliomyelitis bis hin zu zahlreichen Problemen der Wirbelsäule oder des ganzen Bewegungsapparates.

   
  Eutonie-Unterricht und "Bewegungsablauf"
   
 

In der Eutonie werden einfach Übungen angeboten, die ohne grosse Gesten helfen, unser Bewusstsein zu schulen. Viele davon werden am Boden liegend und in langsamen Tempo ausgeführt, wobei der Lehrer die Übungen nicht vormacht oder kritisiert, sondern das Ausprobieren und Nachspüren, die Erfahrungen und Wahrnehmungen jedes Einzelnen ins Zentrum gerückt werden. Dabei werden auch Hilfsmittel wie Bambusstäbe, Tennisbälle oder Kastanien verwendet, die unter Füssen oder Rücken etwa die Aufmerksamkeit und bewusste Wahrnehmung von Spannungszuständen oder Kontakten zur Umwelt schulen.

Eutonielehrer/ - innen lassen ihre Schüler oft zu Beginn den eigenen Körper zeichnen oder aus Ton modellieren. Häufig stellt sich dabei heraus, wie eingeschränkt und verzerrt das Körperbild von sich selbst ist. Im Lauf der Schulung des Körperbewusstseins wächst aber die Fähigkeit, den eigenen Körper gestalterisch darzustellen.

Viele erfahren durch den wachsenden Bezug zum eigenen Leib, wie gedankenlos oder lieblos sie bislang mit ihrem Körper umgegangen sind, wie wenig sie ihn kannten - Hauptsache, er funktionierte. Aufmerksam auf ihn wurden sie eigentlich nur dann, wenn er sich mit Schmerzen, Erschöpfung oder Krankheit meldete. Den Reichtum des eigenen Körpers zu erfahren, ihn gleichzeitig anzunehmen wie auch bewusst beinflussen zu können, vermittelt Einsichten auch ins Geistig-Seelische des Menschen und in seine wunderbare Ganzheit und kann einen Wiederbeginn der Einheit von Leib und Seele bedeuten.

   
  Liegen
   
 

Die einfachste Übung in der Eutonie ist das Liegen auf dem Boden und dabei bewusst die Berührung der Unterlage wahrnehmen: wie Füsse, Beine, Gesäss, Rücken und Hinterkopf den Boden berühren. Sie erspüren und erkunden die Breite und Länge ihres Körpers, achten auf die Position ihrer Arme und Beine, von Kopf und Hals.

Später können kleine Bewegungen Sie die Berührungen mit ihrer Umwelt in vielen Variationen erleben lassen, und Sie werden erstaunt sein, wenn es Ihnen immer besser gelingt, aufmerksam zu bleiben, was alles Sie wahrnehmen und spüren können: wie etwa ein Bein sich durch Präsenz und geringfügige Bewegungen in einem ganz anderen Tonus befindet, sich ganz anders anfühlt als ein "unbearbeitetes " Bein.

Auch der Innenraum unsres Körpers bis hin zum Skelett kann äußerst lebendig und elastisch erfahren werden. Immer mehr werden die Mögflichkeiten des eigenen Leibes bewusst und einer Spannungsregulierung zugänglich gemacht.

   
  Kontaktübungen
   
 

Sie steigern die Konzentration und Durchblutung und vor allem die Sensibilisierung in der Aussen- und in der Innenwahrnehmung sowie die Fähigkeit, Schmerz- und Konfliktsituationen entspannt zu begegnen. Eine Grundübung beginnt damit, die Hände aneinander zu legen, die Wärme von einer Hand zur anderen fließen zu lassen, bis ein gleichmässiger Strom und geschlossener Kreis, eine Einheit entsteht. Oder Sie nehmen einen Holzstab, stellen ihn mit einem Ende auf den Boden und fühlen mit den Händen am anderen Ende durch den Stab bis in den Boden hinein. Man kann die Hände auch direkt auf den Boden legen und in den Untergrund hineinspüren oder einen Ball zwischen die Hände nehmen und die Verbindung von Hand zu Hand durch den Ball hindurch wahrnehmen.

Viele Menschen haben den Kontakt zur Umwelt, ja sogar zu dem, was sie berühren, verloren, weil sie den Kontakt zu sich selber, zu ihrem eigenen Körper aufgegeben haben. Das Wiederfinden des intensiven Kontakts zu sich und zur Umwelt verändert die ganze Lebenswahrnehmung und -einstellung ebenso wie die Beziehung zu Mitmenschen oder auch zu Sexualität und Intimität.

Kontaktübungen verhelfen zur Ruhe und inneren Sammlung, mit einem Gegenstand haben sie auch ableitenden Charakter und sind bei Schmerz- und Spannungszuständen hilfreich. Es können Verspannungen aufgespürt werden (z.B. mittels Bambusrohren unter dem Rücken), die vorher nicht bewusst waren. Über die Sammlung oder mittels Durchströmungsübungen können solche Blockierungen gelöst werden. Blut-, Lymph- und Energieströme werden angeregt, wenn wir beispielsweise in der Rückenlage die Fusssohlen gegeneinander legen und somit einen Kreis von Füssen, Beinen und Becken bilden. Die Konzentration und Präsenz wiederum fördern die Durchlässigkeit und Regulierung des Tonus ebenso wie eine psychische Beruhigung und Sammlung

   
  Der "Transport"
   
  Der Streck- oder propriozeptive Haltungsreflex, der unsere Aufrichtung gegen die Schwerkraft erlaubt ( beziehungsweise der Druck, der als Widerstand gegen das Eigengewicht vom Boden her auf das Skelett wirkt ), wird in der Eutonie, wenn er bewusst von praktisch jeder Körperstelle ausgelöst werden kann., "Transport" genannt. Er sollte genauso selbstverständlich und effektiv funktionieren wie etwa unsere Atmung. Die Belebung dieses Reflexes durch einfache eutonische Übungen führt unter anderem zur Entlastung und Regeneration von Wirbelsäule und Bandscheiben und lässt Bewegungen und die aufrechte Haltung ohne unnötigen Energieverschleiss geschehen. Das bewusste Erleben dieser aufrichtenden Kraft stärkt aber auch das Selbstvertrauen und das Gefühl befreiter Leichtigkeit, ohne den Kontakt zum Boden zu verlieren. Auch das Schwingen um die eigene Mitte, um den eigenen Körperschwerpunkt und Transport zu erleben, kann die Zentrierung der ganzen Persönlichkeit unterstützen.
   
  Kontrollstellungen
   
  Sie ermöglichen eine objektive Überprüfung der Länge und Elastizität der Muskeln und Bänder, die unsere freie Haltung und Bewegung bedingen, und den Fortschritt in der Eutonie-Schulung. Sind sie verkürzt und unelastisch, können durch Berührungs- und Kontaktübungen die Stoffwechselvorgänge und die Durchblutung aktiviert und Ablagerungen ausgeschieden und die Elastizität sowie ein harmonischer Tonus zurückgewonnen werden. Eine einfache Kontrollstellung ist das knieende Sitzen auf den Fersen mit eingebeugten oder auch durchgestreckten Zehen und Fussgelenken. Eine weitere Kontrollstellung, die Kindern meist noch sehr leicht , den meisten Erwachsenen aber schwer fällt, ist das Sitzen zwischen seitwärts abgewinkelten Oberschenkeln und als Variante das anschliessende Ablegen des Rückens auf den Boden, wobei die Beine seitwärts abgewinkelt bleiben. Hierbei zeigt sich die (mangelnde) Elastizität der Knie- und Hüftgelenke sowie der Oberschenkelmuskulatur.
   
  Eigenverantwortung
   
 

Trotz solcher vorgegebener Kontrollstellungen soll in der Eutonie aber niemals mechanisch und nach festem Plan unterrichtet oder geübt, sondern aufgrund individueller Voraussetzungen und Bedürfnisse ausprobiert und variiert werden, damit jeder Schüler sein eigenes Körperbewusstsein entwickelt und nicht die Vorgaben anderer imitiert.

Die Atmung wird in der Eutonie übrigens nicht trainiert; ihr freies Fluss stellt sich automatisch und situationsgemäss ein, wenn die Muskulatur von Brust, Rippen, Bauch und Becken gelöst und eine Flexibilität im Tonus,also eine Eutonie erreicht worden ist.

Stress- und Erschöpfungszustände ( bis hin zu nervlichen und psychosomatischen Störungen ), Ängste, Tics, Schlafstörungen, Allergien, Asthma, Kontakt- und Beziehungsstörungen, Lähmungen, Schmerzen und Leiden im Bewegungspparat, Kreislauf-, Durchblutungs,- Verdauungs- oder auch Empfängnis- und Intimitätsprobleme können mit Eutonie oftmals gelindert oder ganz behoben werden.

   
  Indikationen für Eutonie
   
  Die Eutonie beruht auf dem bewussten taktilen Fühlen, der Entwicklung der Oberflächen- und Tiefensensibilität. Sie vermeidet darum jede Suggestion sowie die direkte Einwirkung auf die Atmung; sie arbeitet vielmehr mit indirekten Einwirkungen auf die vegetativen Funktionen. Ihre Pädagogik beruht auf der Freilegung des persönlichen Rhythmus jedes Schülers, durch Aufgabenstellungen, die von ihm eigene Lösungen ohne Vorbild verlangen. Die "Präsenz" und der permanente Kontakt mit der Umwelt, ein wesentlicher Aspekt der Eutonie, entwickeln sich im Laufe der Arbeit. Berührung und Kontakt von Person zu Person setzen eine Regulierung und Beherrschung des Tonus voraus, um den Partner nicht durch Übertragung der eigenen Verhaltensweisen oder Störungen zu schaden. Es gilt darum in der eutonischen Arbeit: für andere offen und aufnahmefähig zu sein, ohne die eigene Persönlichkeit zu mindern.
   
  Quelle: GymNess - Zeitschrift für Gymnastik und Bewegung
7. Jahrgang, Nummer 4/2002
Autor: Dr. phil. Peter Gilgen