Ethik in der Gymnastik

von Dr. med. Bruno Baviera, Chefarzt, ärztlicher Leiter der Schule für Physiotherapie Aargau, Schinznach

Umfeld der Gymnastik

Die Gymnastik bewegt sich in einem breiten Umfeld von Fitness und Wellness, Prävention und Rehabilitation, Tanz und Selbstdarstellung. Was die Gymnastik auszeichnet, ist auch ihre Ruhe, ihr Blick nach innen und gelegentlich auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit. Gymnastik ist körper- und oft auch partnerbezogen.

Allerdings dient die Gymnastik auch der Sicherung des Lebensunterhalts der Gymnastiklehrerin. Somit muss auch hier Geld verdient werden. Doch bei Geld handelt es sich nur zum Teil um einen virtuellen Wert, denn der bezahlende Kunde erwartet von der Gymnastik einen Gegenwert. Somit ist Gymnastik ein anzubietendes Produkt, und der Verkauf von Produkten bedarf auch einer Kundschaft. Um diese Kundschaft muss geworben werden. Womit die Gymnastik nicht werben kann, sind der so oft gesuchte Kick, die Knalligkeit und die Schnelligkeit.

Im Leitbild der Reha Basel wird festgehalten, dass sie eine Gesellschaft sei, die nicht nur Raum habe für Werte wie Schnelligkeit, Geld und Leistung, sondern auch für Langsamkeit, Würde und Lebensqualität. Es sind dies Werte, die auch die Gymnastik auszeichnen. Äusserlichkeit, Knackigkeit, Schnelligkeit, Konkurrenzkampf und Niederfräsen sind nicht die Ziele der Gymnastik. Insofern steht die Gymnastik im Widerspruch zu einer Rapid-Fire-Society, das heisst Schnellfeuerkultur. Ihr Wert liegt sowohl in der Förderung der Leistungsbereitschaft wie auch in der Förderung der Wahrnehmungsfähigkeit und Nachdenklichkeit.

 

Umfeld und Leben

Die Ethik setzt sich zum Schutz des Lebens und der das Leben ermöglichenden Umwelt ein. Sie regelt auch die Normen des Zusammenlebens.

Die Regeln der Ethik müssen im Wandel der Zeit, auf der Grundlage der momentanen Kenntnisse, immer neu gestaltet werden. Welche Taten und welche Eingriffe nützen oder schaden wem, das sind Fragen, die es zu stellen und zu beantworten gilt. Wie viel Natur darf dem sportlichen Wahnsinn geopfert werden? Wie viel Ressourcen dürfen für einen Anlass gebraucht werden, wenn andere hungern? Wie viel Mitspracherecht soll dem weniger Lauten eingeräumt werden? Wie viel Transparenz gebührt dem Volk in einer Demokratie? Was sind die Hintergründe von Zauberformeln, Interessensgemeinschaften, Kartellen usw.?

Warum erbringen Menschen Spitzenleistungen, warum wird gedopt, warum findet der Wettkampf oft im Labor statt? Was ist noch erlaubt? Ist erlaubt, was nicht entdeckt wird? Solche Fragen müssen gestellt werden: Sie dienen der Wahrnehmungsschulung der Mitglieder einer Gesellschaft. Ohne diese Wahrnehmung kann von Gesundheit auch einer Gesellschaft nicht gesprochen werden. Diesem ethischen Umfeld des Gesundheitsbegriffes widmet sich die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung von 1986: Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000. Davon sind wir heute noch weit entfernt.

Ich träume nicht von einer gerechten Welt. Aber wo ich mich engagieren möchte, will ich die entstehenden Kosten nicht extegrieren. "Après moi le déluge", nach mir oder nach uns die Sintflut! Sintflut oder Sündflut. In der Gymnastik begegnen wir Menschen in ihrer Körperlichkeit, ihrer Leiblichkeit mit all ihren Erwartungen. Gymnastik führt zur Wahrnehmung dieser von uns nicht abschliessend verstandenen individuellen und kollektiven Existenz. Gymnastik vermittelt Werte. Diese Werte dienen dem Schutz des Lebens, und dieses Leben wird in der Gymnastik prozessartig wahrgenommen. Das Resultat solcher Prozesse ist nicht durch physikalische Parameter messbar.

Im Rahmen eines von innen kommenden Bewusstseins, einer so genannt natürlichen Ethik, werden in allen Kulturen Werte wahrgenommen, die das Leben und seine Umwelt schützen wollen. Schützen heisst aber auch Kollateralschäden berücksichtigen. Gymnastik soll nicht zu Überbelastungen, Schmerzen, Verletzungen der Würde und Nötigung führen. Es gilt, mit einer hohen sozialen und persönlichen Kompetenz die Grenzen von sich selbst und von anderen wahrzunehmen und zu respektieren.

 

Produktewahrheit

Die Gymnastik bietet Leistungen an. Bezüglich dieser Angebote sind bei den Konsumentinnen, bewusst oder unbewusst, Erwartungen vorhanden. Deshalb ist für die Kundinnen klar verständlich darzustellen, welche Erwartungen abgedeckt werden können. Leider sind diese Bedürfnisse vielen nicht bewusst zugänglich. Somit ist vorerst eine klare Zielformulierung gar nicht möglich. Erst prozessartig kann erkannt werden, welche Bedürfnisse zutiefst wirklich vorliegen. Antonovsky beschreibt einen Kohärenzsinn als Orientierung des Menschen, der das Ausmass ausdrückt, inwiefern jemand ein durchdringendes Gefühl des Vertrauens hat, dass:

Dieser Kohärenzsinn erfordert als Voraussetzung drei Komponenten:

Eine zum miteinander erarbeiteten Ziel führende Gymnastik ist somit nicht repetitiv und nie rezeptartig. Gymnastik ist, wie erkennbar, tiefgreifend und persönlichkeitsentwickelnd. Deshalb ist ihr Wesen auch nicht einfach kommunizierbar. Natürlich wollen wir alle gesund, schön und begehrenswert sein. Alle wollen wir Anerkennung finden und geliebt werden. Erkennen und anhaltendes Tun führen aber erst nach längerer Zeit zum Ziel. Diese Wege sind oft schmerzlich, der Ausgang des Projekts ist oft unklar. Prozesse dauern eben länger. Wo leichte Wege zum Erreichen eines schwierigen oder unmöglichen Ziels versprochen werden, besteht keine Produktewahrheit. Gymnastik macht nicht gesund oder leistungsfähiger, aber sie kann die sich Bewegenden auf dem Weg dazu unterstützen und begleiten.

 

 

 

Ethik in der Gymnastik

Gymnastik ist eine die Intimsphäre berührende Arbeit. Gymnastik stellt Fragen an die leibliche Existenz. Sie lässt Begegnung mit sich selbst und anderen zu. Sie fördert diese nachgerade. Haltung und Bewegung sind Sprachen, und Sprachen stellen auch Fragen und decken auf.

Aaron Roland Bodenheimer beschreibt eindrücklich die Prozesse des Fragens, die zur Aufdeckung von Intimität führen und somit eine obszöne Komponente haben. "Intim ist das vom Einzelnen Verborgene. Das Intime ist das Persönliche mit seiner Scheu und Heimlichkeit. Das Fragen bedrängt den Befragten zu Antworten, Stellung zu nehmen und Intimes darzustellen. Fragen können blossstellen, beschämen, bedrängen. Als obszön begriffen wird die Situation, wo ein Einzelner gewisse Anteile seiner Persönlichkeit unvermittelt und unvorbereitet nach aussen preisgegeben findet. Es sind dies die Persönlichkeitsanteile, welche der durch die Frage Exponierte anderen gegenüber, oder auch vor sich selbst, bisher verborgen gehalten hat. Wenn das Fragen obszön sein soll, will das dann heissen, dass man nicht mehr fragen darf? Das ist eine der obszönen Fragen; ein Beispiel für die Methode, Aussagen durch das Mittel des Infragestellens in Nötigung umzuformen. Natürlich darf gefragt werden, denn Obszönität darf aufkommen und muss gelegentlich auch aufkommen." Aber wir sind gefordert zu wissen, was Fragen bewirken.

Jede Haltung, jede Bewegung, ja schon jeder Händedruck und jede Mimik drücken oft mehr aus als tausend Worte. Während der Körpererfahrung werden kognitive wie emotionale Ebenen einbezogen, die unsere Intimität berühren, sie zugänglich machen und so auch nach aussen zu erkennen geben. Insofern haftet auch der Gymnastik eine gewisse Obszönität an. Dies gilt es zu wissen und damit sorgfältig umzugehen. Die Betroffenen sollen nicht genötigt werden, Intimität preiszugeben. Sich zu öffnen, sich darzustellen und so bewusster wahrzunehmen ist ein Prozess, der in der Gymnastik behutsam angeleitet werden muss. Sich in der Gruppe darzustellen bedeutet auch Entblössung und die Möglichkeit der Beschämung, wenn dies nicht auf Gegenseitigkeit, Einsicht und Einverständnis beruht.

In der Einseitigkeit der Verhältnisse von Betroffenen gegenüber Lehrern, Pädagogen, Beamten, Therapeuten usw., in der Gegenseitigkeit ausgeschlossen ist, liegt das Beschämende und somit wesenshaft Obszöne. Eine ethisch bewusste und ethisch ausgerichtete Gymnastik zeichnet sich aus durch:

Eine ethisch bewusste Gymnastik wirbt transparent und wahr. Sie berücksichtigt bei den Betroffenen die individuelle:

Insofern ist Gymnastik empathisch, schonend und wahr. Diese Überlegungen führen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den gymnastischen Angeboten und ihren Anbietern. Ethische Fragen der Gymnastik sind integrierter Bestandteil der Aus- und Weiterbildung. Ich bin überzeugt, dass diese Aspekte unabdingbar für die Nachhaltigkeit der Gymnastik sind.

 

Qualitätsleitbild

Jede ethische Theorie oder jedes ethische Bekenntnis muss an seiner Umsetzbarkeit und Umsetzung gemessen werden. Dies ist eine pragmatische Forderung, die auch die Gymnastik betrifft. Deshalb habe ich ein Qualitätsleitbild für den Berufsverband für Gymnastik und Bewegung Schweiz verfasst:

"Der BGB Schweiz bezweckt die Wahrnehmung der beruflichen, sozialen und kulturellen Interessen seiner Mitglieder. Er unterstützt und berät die ihm angeschlossenen Mitglieder in beruflichen Belangen und sorgt für eine stetige Qualitätssicherung. Der BGB Schweiz ist parteipolitisch unabhängig und konfessionell neutral.

Die Mitglieder des BGB handeln auf der Grundlage der für sie relevanten wissenschaftlichen, pädagogischen, soziokulturellen und ethischen Grundlagen. Sie bilden sich kontinuierlich weiter, um ihre Kompetenzen für die Wahrnehmung ihrer Funktionen zu erhalten und zu fördern. Da es sich bei der Gymnastik um eine auch die Intimsphäre berührende Arbeit handelt, werden die Würde, die Leistungsbereitschaft und die Leistungsgrenzen der Betroffenen mit einer hohen Sensitivität wahrgenommen und respektiert. Wenn die Gymnastik Beiträge zur Gesundheitserhaltung und Gesundheitsförderung leistet, macht sie keine Heilversprechungen. Sie ist transparent in ihren Angeboten und macht nur einlösbare Versprechungen. Während jeder gymnastischen Tätigkeit werden Massnahmen getroffen, um die physische, psychische und soziale Integrität der Betroffenen wahrzunehmen und zu schützen. Der BGB Schweiz verpflichtet sich einer menschenwürdigen und ethisch hoch stehenden Arbeitsweise."