Bildung in der Ausbildung
Verfasser: Dr. med. Bruno Baviera
Irgendwie sind wir alle gebildet, ausgebildet oder manchmal auch verbildet oder gar eingebildet. Wenn ich ausbilde, muss ich mich als Pädagoge fragen, nach welchem Bild, nach welchen Vorbildern ich ausbilden will. Denn als Lehrer vermitteln wir bewusst Bilder, Leitbilder, und gelegentlich sind wir auch Vorbilder.
Unsere Handlungen basieren auf Ideen, auf inneren Bildern, auf Zielvorstellungen, auf Hypothesen über Wirkungsweisen, über Ursachen und Wirkungen, sei es in der Pathologie, der Therapie oder Gesundwerdung.
Auch als GymnastiklehrerInnen haben wir den Auftrag, Menschen zu handlungsfähigen Personen auszubilden. Nach den Regeln der Kunst sollen wir ausbilden, nach den Regeln der Kunst sollen unsere SchülerInnen an und mit Gesunden und allenfalls Kranken handeln können. Wir vermitteln über kognitive Wege die Hintergründe der Funktionsweise unseres Körpers, die Entstehungsweise von Bewegungen und Bewegungsstörungen. Wir erklären, wie und warum unsere Vorgehensweisen wirksam sind. Dabei stützen wir uns auf Ergebnisse von Untersuchern, die auch ihrerseits geprägt wurden. Die praktischen Fertigkeiten, die unserem Tun zugrunde liegen, lassen sich nur sensomotorisch am Modell und später an den Kursteilnehmerinnen erlernen. Aber auch diese Fähigkeiten entspringen meistens aus sich oft selbst bestätigenden Konzepten. Und auch unsere Kunden haben ihre Bilder: kulturelle, religiöse. Wir alle haben übernommene Bilder. Sie bilden unser biografisch erworbenes kurikuläres Portfolio.
Kinder sind neugierig. Sie fragen nach dem Warum, oft bis auch wir Eltern keine Antworten mehr finden. Bereits das staunende Anhalten vor einem bizarr geformten Baum, das Aufheben eines fein gefaserten Steines beim Spazierengehen zeigen unseren Kindern, dass auch wir Eltern noch staunen können. Sicher nicht klischeehaft ist meine Wahrnehmung, dass sich mein kleiner Sohn eher für Steine, Bohrer und Hämmer interessierte und meine kleinen Töchter eben doch für Puppen und Barbies. Meine Maurerarbeiten im Garten interessierten vor allem Fabio, nicht aber Bella und Christina. Ausnahmen bestätigen gelegentlich die Regel.
Wie oft wiesen namhafte Pädagogen wie Carl Rogers, Horst Rumpf oder Hartmut von Hentig auf die Wichtigkeit des spielenden Lernens hin. Berühren, Betasten, Spielen, Singen und Tanzen sind wichtige Lehr- und Lernfelder, um uns und unsere Umwelt zu begreifen. Techniken wurden entwickelt, um die persönlichen Lernstile der Lernenden besser zu nutzen
Wie oft sind wir Lehrer enttäuscht vom Nicht-verstehen-Können unserer SchülerInnen. Wie schnell vergessen wir Lehrende und Experten, dass unseren Novizen der langjährige Umgang mit der zu erlernenden Materie fehlt. Oft erst begreifen wir den wahren Sachverhalt beim dritten oder vierten Mal Nachdenken. Ich wünsche mir SchülerInnen, die vor dem Eintritt in die Ausbildung merken, dass sie oft nur Worthülsen aufgenommen haben. Anscheinend einfach Begriffe wie Materie, Kraft, Ausdauer, Diffusion usw. werden erst nach vertieftem Nachdenken und Experimentieren begreifbar und somit auch für die gymnastische Handlung frei nutzbar.
Wir müssen uns mit dem uns zur Verfügung stehenden Gehirn Bilder machen. 40 % unserer Hirnrinde sind mit der Bildverarbeitung beschäftigt. Unsere Bewegungen folgen den inneren Bildern über unseren Körper und unser Umfeld. Ein körperfernes, lediglich kognitives Stoffvermitteln lässt unsere angehenden GymnastiklehrerInnen vergessen, dass sie selbst einen Körper besitzen. Dieser Körper in seinem Umfeld ist eine der wichtigsten Grundlagen für das Funktionieren unseres Gehirnes. Bewegung ist nicht nur peripher wirksam. Sie ist auch ein Beitrag an die inneren Bilder über unseren Körper und seine Umgebung.
Der Körper wird von uns als schön, leistungsfähig oder aber als hässlich und schwach empfunden. Über Bilder vermittelte sogenannte Schönheitsideale führen von Essstörungen bis zur Osteoporose und bis zur ungewollten Unfruchtbarkeit. Wenn das Ich sich im Sich-selbst nicht mehr wohlfühlt, ist die Bewegung nach aussen nicht mehr frei möglich. Die Vielfalt der äusseren Einflüsse liegt so danieder. Der zuerst sich nur zaghaft meldende Schmerz gewinnt den Überhang. Der Schmerz erobert sich kortikale Gebiete, die ihm nicht zustehen. Der Gesunde wird durch die neuroplastischen Prozesse weggefressen, bis das Ganze schlussendlich daniederliegt. Gerade hier setzt Gymnastik, Bewegungspädagogik oder Bewegungstherapie an.
Die nicht verlegten Kanäle der künstlerisch Begabten belegen das mit ihren Werken: Bildern, Skulpturen, Bauten, Musikkompositionen oder Texten. Die Darstellungen der Schmerzen bei Frida Kahlo oder bei Edvard Munch sind ergreifende Beispiele. Rodins "Celle qui fut la belle heaulmiere" oder "Balzac" zeigen die Schönheit des Alters oder des Dickseins. Niemayer oder Calatrava oder Gaudi experimentierten mit einer die Zuschauer bewegenden Statik. Sie realisierten das anscheinend nicht Realisierbare. Der Schmerz in den tragischen Werken der Klassiker bis zu den Assoziationsspielen moderner Schriftsteller oder Philosophen, wie z.B. Sloterdijk und Zizak, führen uns in eine der Logik vorerst nicht zugängliche Welt ein.
Den Sinn des Lebens zu ergründen, ist wohl eine nie endende Bemühung. Den Sinn im lang andauernden Leiden und im langsamen Sterben zu finden wohl auch. Junge Menschen auch auf den Umgang mit chronisch Leidenden vorzubereiten ist eine Aufgabe, die nicht an der Wandtafel stattfinden kann. Die Stufen der Trauerarbeit und des Loslassens können nicht mit einer Hellraumprojektor-Folie erklärt werden. Das Videoband ersetzt nicht die Konfrontation mit dem eigenen Schmerz. Die Integration des Leidens, des Nichtperfekten und des Hinfälligen in unser Weltbild entspricht nicht dem von der Werbung vermittelten Bild. Der Anspruch auf Glück scheint für uns oft ein Grundrecht zu sein, das uns aber nie versprochen wurde. Manche Menschen finden trotz allem oft kurzfristig Trost im Humor, denn das Leben ist auch tragisch-komisch. Diese Aspekte müssen in den Unterricht einfliessen und sind Teil einer wahren Bildung. Denn der auch seine Grenzen Erkennende unterscheidet sich erst vom aufgeblasenen, sich allmächtig glaubenden Technokraten. Denn immer öfter findet sich die Gymnastik und Bewegungspädagogik auch mit Leidenden konfrontiert.
Die Notwendigkeit, um solche Aspekte bewusst zu machen, dieses Sichtbarmachen unserer Zustände weist uns darauf hin, neben den naturwissenschaftlichen, pädagogischen und handlungsorientierten Ansätzen auch den Weg einer tiefer liegenden Wahrnehmung zu gehen. Wir Lehrenden müssen den sich uns anvertrauenden Menschen zutiefst empathisch auf einer oft nicht zu verbalisierenden Ebene begegnen. Wir müssen uns hüten, unsere eigenen akuten Schmerzerfahrungen als Messinstrument für die Beurteilung der an chronischen Schmerzen Leidenden anzuwenden. Dies gilt für Schmerzen im wörtlichen wie übertragenen Sinn.
Wenn das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit von uns selbst erschüttert ist, ist unser Selbst erschüttert. In diesem Umfeld ist vor einem Training eine nicht primär technische Beratung, sondern ein prozesshaftes Herantasten notwendig. Gelegentlich braucht der Ermüdete, Daniederliegende auch Ruhe und nicht den Kick am Trainingsgerät. Diese auch warten könnende Begleitung braucht auch eine Bildung des Herzens. Oft besitzen diese Gaben in grossem Masse diejenigen, die selbst gelitten haben. Um diese Herzensbildung wahrzunehmen und nicht unter dem dauernden Stoffdruck ersticken zu lassen, braucht es eine hohe humanistische Kompetenz bei allen Lehrern und Lehrerinnen. Viele dieser Aspekte müssen wir im üblichen Unterricht integriert vermitteln. So wird Unterrichten zur Kunst, der Unterricht zum Kunstwerk, und das auf jeder Ebene.
Entspannung, Farberleben, Diskussionen und Gruppenarbeiten sind Möglichkeiten, diese Kompetenzen bei uns zu fördern. Die Auseinandersetzung mit unserer Leiblichkeit ist die Voraussetzung für die Begegnung mit anderen, und das immer wieder anders. "Das Gras wächst nicht schneller, wenn wir daran ziehen", sagt ein afrikanisches Sprichwort. Anlässlich einer Arbeitsplatzbewertung per Fragebogen qualifizierte ich meine Arbeit mit folgender Aussage: "Holz kann man verbrennen. Aus Holz lässt sich ein Stuhl zimmern oder das Antlitz einer Madonna schnitzen".
In diesem Sinn ist Bildung nicht nur das Anhäufen von Wissen und Können. Bildung zu vermitteln ist ein andauernder Prozess, und dieser Prozess wird irgendwann selbst zum Kunstwerk.
Literaturnachweise:
Rogers, Carl R. (1974): Lernen in Freiheit. Zur Bildungsreform in Schule und Universität. Kösel-Verlag, München
Von Hentig,H. (1993): Die Schule neu denken. Carl Hanser Verlag, München
Von Hentig,H. (1996): Bildung. Carl Hanser Verlag, München
Schwanitz (1999): Bildung. Alles, was man wissen muss. Eichborn,Frankfurt