Die Integration des Beckenbodens
Teil 2
Karin Bischoff, Gymnastikpädagogin
Körperarbeit im Beckenboden
In der Körperarbeit steht die Entspannung vorerst im Zentrum. Nur über die Entspannung schaffen wir ein ganzheitliches Fundament, das den Frauen ermöglicht, an ihre individuelle Ursache der Beckenbodenschwäche zu kommen. Es benötigt einiges an vermitteltem Hintergrundwissen, um den Betroffenen verständlich zu machen, weshalb sie vorerst einmal lernen müssen zu entspannen. Frauen, die unter einer Harninkontinenz oder Gebärmuttersenkung leiden, verspüren natürlich zusätzlich den Drang, ihren Beckenboden und alle umliegenden Muskeln anzuspannen, um ihrer Angst vor dem Loslassen entgegenzuwirken. Es braucht Mut, jetzt den Beckenboden zu entspannen. Zudem wird eine Überspannung zuerst nicht wahrgenommen. Denn für das Körpergefühl ist diese stetige Anspannung völlig normal. Erst nach längeren Entspannungsphasen realisieren die Frauen allmählich, wie hoch zuvor die Anspannung gewesen ist, sie können den Unterschied von Spannung und Entspannung jetzt wahrnehmen.
Das Wahrnehmen und Bewusstwerden der eigenen Körperhaltung und der Spannungszustände in den Haltemuskeln ist ein weiterer wichtiger Faktor in der Körperarbeit. Unser Bewegungskörper ist so eingerichtet und ausgestattet, dass er sehr ökonomisch und funktionell arbeiten kann. Das heisst, dass die einzelnen Muskelkoordinationen für eine bestimmte Bewegung so fein abgestimmt sein könnten, dass eine Bewegung möglichst reibungsfrei und mit minimalem Aufwand ausgeführt werden kann. Dieses Verhalten ist dem Körper einfach gegeben, wie eine eigene Intelligenz. Dieses von mir benannte ökonomisch-funktionelle Körperverhalten ist in der Entspannung und Passivität erlebbar. In diesem Zustand geben wir unsere grob kontrollierte Muskelsteuerung der eigenen Körperintelligenz ab und lassen uns von ihr führen.
Die Ausrichteübung und das Beckenkippen
Das passive Ausrichtenlassen über die Körperintelligenz und das passive Beckenkippen in der Rückenlage geben uns Aufschluss über unser ökonomisch-funktionelles Körperverhalten und über allfällige Überspannungen und/oder Verkürzungen in bestimmten Muskelgruppen, die eben ein ökonomisch-funktionelles Körperverhalten verhindern. Haben wir einmal festgestellt, welche Spannungsblockaden im Körper vorhanden sind, wissen wir, wo unsere Aufmerksamkeit hingelenkt werden muss.
Die Ausrichteübung
Rückenlage, Füsse hüftbreit aufgestellt, Hände ruhen auf dem Unterbauch: Den Atem in Gedanken entspannt bis in den Bauch, in die Hände lenken. Den Atem nicht forcieren, nur beobachten. Mit dem Ausatmen sinkt der Bauch entspannt in den Rücken, sodass Kreuz- und Beckenbereich weich und breit werden. So lange entspannt ausatmen lassen, bis das Einatmen wieder von alleine kommt. Wenn der Atem allmählich ruhig und autonom wird, stelle ich mir vor, wie der Einatem bis zum Steissbein fliesst und sich dort ausdehnt. Mit dem Ausatmen lasse ich den Atem über das Steissbein hinaus in die Verlängerung fliessen. Durch das mentale Führen der Atmung lösen sich in der Region des Steissbeins und Afters oft sehr hohe Spannungen, welche ein Ausrichten über das ökonomisch-funktionelle Körperverhalten grundsätzlich verhindern und zusätzlich verantwortlich sind für Rückenprobleme im Kreuz- und Lendenwirbelbereich und für Spannungsverschiebungen im Beckenboden.Danach lenke ich die Aufmerksamkeit auf die Knie und stelle mir vor, wie diese an Fäden aufgehängt sind, die zur Raumdecke hochziehen, sodass das ganze Gewicht der Beine an den Fäden hängt. Dadurch können sich unnötige Spannungen in den Beinen und Hüftgelenken lösen.
Alle Muskeln um das Becken, am Gesäss, um die Hüftgelenke können sich entspannen.Die Hüftgelenke fühlen sich ausgedehnt und weich an. Jetzt richte ich die Aufmerksamkeit noch auf den Scheitelpunkt am Kopf, die Verlängerung der Wirbelsäule. Ich stelle mir vor, wie aus der Verlängerung ein Faden zieht, der die Halswirbelsäule passiv und fein verlängert, sodass sich das Kiefergelenk entspannen kann und viel Raum zwischen den Schulterblättern entsteht. Mit jedem Ausatmen sinkt das Brustbein entspannt in den Rücken, und in meiner Vorstellung fliesst der Atem gleichzeitig über den Scheitelpunkt hinaus in die Verlängerung. Diese Ausrichteübung bringt mich in eine entspannte, passive Haltung, die dem ökonomisch-funktionellen Körperverhalten ermöglicht, die Führung für jede weitere Bewegung zu übernehmen. Durch das entspannen der starken, dominanten Haltemuskeln wird ein Zustand erreicht, wo eine ökonomische Feinkoordination aller Muskelansätze am Becken erst möglich wird.
Das Beckenkippen
Aus der Ausrichtung in Rückenlage lasse ich nun das ökonomisch-funktionelle Körperverhalten für mich arbeiten. Das heisst, dass ich mich so passiv wie möglich verhalte und dadurch Informationen über allfällige dominante Kontraktionsmuster erhalte, die ein ökonomisch-funktionelles Bewegen verhindern oder einschränken.
Übungsanleitung
Mit den Füssen leicht Druck auf den Boden aufbauen, sodass das Becken ins Kippen kommt und das Kreuz Richtung Boden sinkt. Der Bauch sinkt dabei entspannt in den Rücken, Gesäss- und tiefe Rückenmuskeln bleiben ebenfalls entspannt, und die Sitzbeinhöcker fühlen sich breit an. Die Bein- und insbesondere Hüftbeugemuskeln verhalten sich passiv. Danach den Druck mit den Füssen langsam lösen und das Becken zurück ins Zentrum kommen lassen - zurück in die Ausrichtehaltung. Danach gehen die Gedanken zum Steissbein. Das Steissbeinende zieht leicht und langsam ohne aktiven Kraftaufwand Richtung Boden, wobei sich das Becken Richtung Hohlkreuz bewegt. Vor allem die Hüftbeuger, welche sonst sehr dominant sind und beim geringsten Bewegungsimpuls anspringen wollen, sollen hier entspannt bleiben. Lassen wir uns hier aber bewusst vom Steissbein führen und bleiben in einer sehr passiven Haltung, so kommt ein grösseres, fein koordiniertes Muskelsystem zum Tragen, das als Ganzes diese Bewegung zustande bringt. Danach den imaginären Zug am Steissbein wieder lösen, sodass das Becken langsam und passiv wieder in seine Mittelposition zurückfinden kann. Jetzt beginnt die Übung wieder von vorne : Mit den Füssen leichten Druck in den Boden ausüben .....
 
Durch den Druck der Füsse auf die Matte sinkt das Kreuz in die Matte, der ganze Körper reagiert.
Durch den imaginären Zug des Steissbeins Richtung Matte wird der ganze Rücken in eine entspannte Hohlkreuzposition gezogen.
In dieser altbekannten Übung - wenn sie so bewusst ausgeführt wird - lassen sich verschiedene dominante Kontraktionsmuster erkennen, die ein ökonomisch-funktionelles Verhalten verhindern. Über Zeit wirken sich diese Muster grundsätzlich ungünstig auf unsere Haltung aus und beeinträchtigen speziell die fein abgestimmten Spannungsverhältnisse in der Koordination von Bauch, Rücken und Beckenboden. Der Beckenboden nimmt dabei eine zentrale Rolle ein, da er viele Bewegungen im Becken und in den Hüftgelenken zulassen und zugleich immer wieder andere Spannungsverhältnisse aufbauen muss, um so einen möglichen Druckausgleich zu schaffen. Also eine sehr differenzierte Aufgabe, die ihm zuteil wird, die sich ja auch aus seiner komplexen Aufbaustruktur ablesen lässt: Seine Vielschichtigkeit und die verschiedenen Spannungsverläufe sprechen für sich und ermöglichen uns bestenfalls eine enorme Bewegungsfreiheit. Ein wunderbares Beispiel für einen fein koordinierten Beckenboden und die nötige Passivität für ein ökonomisch-funktionelles Körperverhalten finden wir im Bauchtanz wieder.
Was ich in der Beckenbodenarbeit vorerst einmal anstrebe, ist das Auflösen der dominanten Koordinationsstrukturen und hohen Spannungszuständen, die ein ökonomisch-funktionelles Körperverhalten verhindern. Dabei hilft mir vor allem der natürliche, entspannte Atemfluss, welcher grundsätzlich die Führung für jeden Bewegungsimpuls übernimmt, auch in den spezifischen Beckenbodenübungen, weil sonst ein ökonomisch-funktionelles Arbeiten im Körper gar nicht möglich ist. Ein allmähliches Auflösen von Blockaden im gut koordinierten Bewegungsfluss lässt den Beckenboden gleichsam umsonst langsam wieder zentrieren, sodass er seine Aufgabe wieder in vollem Umfang übernehmen kann. Es ist also nicht zusätzliches Anspannen gefragt, sondern ein Loslassen von meist alten, schlecht koordinierten Bewegungsmustern.
Beckenbodenübungen
Alle Beckenbodenübungen sind sehr differenziert und sehr fein in der Ausführung. Immer bestimmt der individuelle Atemfluss das Übungstempo und führt durch jede Übung; nur so kann die Arbeit funktionell richtig sein und der Beckenboden allmählich wieder in die Gesamtkoordination integriert werden. Ein Beispiel dazu: Ausgangslage ist wiederum die Rückenlage in der Ausrichteposition. In dieser Position ist es am einfachsten, den Beckenboden wahrzunehmen und Übungen zu machen, da eine tiefe Entspannung möglich ist. Ich lasse den Atem in Gedanken bis tief in den Beckenboden fliessen. Nach einiger Zeit spüre ich den Atem im Beckenboden: Mit jedem Einatmen lässt der Beckenboden eine leichte Ausdehnung nach unten zu, und mit dem Ausatmen löst sich diese wieder auf, und der Beckenboden sinkt passiv ins Becken zurück.
Was hier erlebt wird, widerspiegelt die Funktionalität von Zwerchfell und Beckenboden. Sind Zwerchfell, Beckenboden und/oder Bauch aber überspannt, ist diese feine Bewegung vorerst nicht spürbar. Über Entspannungs- und Atemarbeit wird sich diese Überspannung allmählich auflösen. Die Weiterführung der Übung kann so aussehen: Ich lasse entspannt einatmen, während des Ausatmens verschliesse ich mit ganz wenig Kraftaufwand ringförmig den Scheidenausgang. Mit dem Einatmen löse ich diese feine Spannung wieder komplett und lasse den Beckenboden sich wieder entspannt nach unten ausdehnen. Mit dem nächsten Ausatmen verschliesse ich den Scheidenausgang wieder usw. Wichtig ist, dass der Beckenboden nicht als Block bis zum After und womöglich noch zusammen mit den Gesässmuskeln angespannt wird, sondern eine isolierte feine Anspannung, die das Verschliessen mit sich bringt, ausgelöst wird.
Im Zentrum einer Übung steht nicht das Kräftigen einer Muskelgruppe, sondern das Wahrnehmen von zuviel und falscher Spannung, die das richtig koordinierte Spannen verhindert. Wir müssen lernen, weniger zu machen, und unser Leistungsdenken loslassen, um zu erleben, wie unser Körper selbst eine Intelligenz hat, die genau weiss, was gemacht werden muss. Beckenbodenübungen auf diesem Niveau sind auf eine andere, ungewohnte Art anstrengend und fordern uns auf verschiedenen Ebenen.
Immer wieder kämpfen wir gegen das Machen- und Kontrollierenwollen an und realisieren, wie stark wir in unseren alten Bewegungsmustern festsitzen. Doch mit etwas Übung und Geduld gelingt es uns schliesslich, den Atem führen zu lassen und unsere ganze Konzentration auf unsere Wahrnehmung und unseren Beckenboden zu lenken. Durch diese Arbeit öffnen sich neue Dimensionen der Selbstwahrnehmung und der Lebensanschauung. Wir beginnen, von innen nach aussen zu schauen, und betrachten, beobachten und werten uns nicht mehr von aussen. Diese neue Perspektive unterstützt unmittelbar den Selbstheilungsprozess, der ja auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig stattfinden muss.